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Es ist Krieg, und sie feiern

Vergangenes Jahr wurde er verprügelt, als er das Parlament in Charkiw verteidigte. Jetzt verteidigt er die Freiheit mit Musik – auf Tour mit dem ukrainischen Schriftsteller Serhij Zhadan und seiner Band.

Der Krieg – er sieht so aus: Ein Arm, breit und trainiert, zum Ellbogen zieht sich frische, rosige Haut hoch und zusammen. Durch diesen Arm ist eine Kugel gegangen. Igor dreht sich, zeigt dann die zweite Narbe auf demselben dicken, starken Arm. „Und hier hat mich die Kugel auch wieder schon verlassen“, sagt er leicht lächelnd wie ein zu großes Kind.

Igor hat ein Jahr für das Kiewer Freiwilligenbataillon gekämpft und wurde zweimal verletzt, im Osten. Und während er mir seine Wunden jetzt erklärt, zieht Kiew und eine kurze Sommernacht an uns vorbei. Igor ist der Freund einer Freundin einer Bekannten. Ich kenne ihn nicht, trotzdem fährt er mich aus einem Kiewer Vorstadtviertel – mit der Metro nicht zu erreichen – zurück in die Stadtmitte, zurück in mein Hotel.

Polka im Kopf

Noch vor einer einzigen Stunde wusste ich nicht, wie Schusswunden aussehen. Noch vor einer einzigen Stunde war der Krieg nicht zu sehen. Noch vor einer einzigen Stunde tanzten tausende narbenlose Körper zu der Musik der ukrainischen Rockband Sobaki v Kosmose, zu dem Gesang des ukrainischen Schriftstellers Serhij Zhadan auf einem Festival-Gelände.

Im Polka-Rhythmus der Sobaki-Bläser sang Zhadan dort den Song „300 Chinesen“ und sang auch noch viel mehr, immer auf ukrainisch, immer zur leicht unterschiedlichen Musik. Denn die Musik von Sobaki v Kosmose (das heißt übersetzt: Hunde im Weltall) ist eine Zwischenmusik, eine Musik zwischen Rock zwischen Punk zwischen Ska.

„Was machst du hier in der Ukraine?“, fragt Igor, während wir nun durchs Kiewer Zentrum fahren, der Vorort und das Festival liegen mehr als zehn Kilometer hinter uns entfernt, trotzdem tanzen die dreihundert Chinesen der Sobaki noch immer Polka in meinem Kopf.

Wie ein Arzt, der seinen Patienten beruhigt

Und ich versuche Igor etwas Halbkluges zu entgegnen, sage dann aber: „Ich will dieses Land jetzt verstehen, in seinem Jetzt, verstehst du?“ – „Auf einem Konzert?“, antwortet Igor, und dann schäme ich mich für mein Kunst-kann-die-Welt-erklären-Phantasma, schäme mich für diesen Reflex, der mich in die Ukraine gebracht hat, zuerst in den Nordosten, nach Charkiw.

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Dort beginnt alles, dort treffe ich, drei Tage, bevor ich mit Igor durch die Kiewer Nacht fahre, Serhij Zhadan in der Altstadt Charkiws zu einem Spaziergang. Auf einem Hügel zeigt er dann nach Norden: „Da hinten beginnt Russland“, sagt Serhij Zhadan, „nur fünfzig Kilometer entfernt“.

Und ich will wissen, wo der Krieg ist. Dieser Krieg, der seit mehr als einem Jahr tobt, dieser Krieg, den viele Europäer heute trotz allem doch nur als „Krise“ bezeichnen. Wie weit ist es zur Front, zu den prorussischen und russischen Separatisten?, sage ich. „Mehr als zweihundert Kilometer“, antwortet Serhij Zhadan wie ein Arzt, der seinen Patienten zu beruhigen versucht.

Sie war ein Synonym für das Fest

Optisch ist er das Gegenteil vom Arzt-Klischee: seine Undercut-Frisur ist etwas Popstar, die Jeans und das T-Shirt sind eher Student. Zhadan ist Anfang vierzig, geboren im Gebiet Lugansk. Und doch ist er ein echter Charkiw-Eingeborener. Seit mehr als zwei Jahrzehnten lebt er hier, und hier spielt oft die Prosa Serhij Zhadans und auch die Lyrik. Als Teenager schrieb er seine ersten Gedichte, heute ist er der bekannteste Dichter seines Landes. Und Autor. Und vielleicht sogar auch Musiker.

Im heißen Regen gehen wir durch den Sommer. Die Häuser der Charkiwer Altstadt sehen aus wie geprügelte und alte Männer: ihre gebrochenen Nasen sind die kaputten Fassaden, ihre von Adern durchzogenen Augen die zersprungenen Fenster. Und dann bleibt Serhij Zhadan stehen, zeigt auf einen der Geprügelten aus rotbraunem Ziegel und sagt: „Hier wohnt Marat.“

Marat ist einer der Protagonisten aus „Mesopotamien“, Zhadans neuem Roman, der im August auch auf Deutsch bei Suhrkamp erscheint. Und mit Marat beginnt auch das literarische Zweistromland Zhadans, genauer: vierzig Tage nach seinem Tod.

Doch Marat fällt nicht im Krieg, er lebt und stirbt vorher. Denn Zhadan hat seinen Roman geschrieben, bevor auf dem Maidan Scharfschützen Menschen töteten, bevor russische Soldaten in die Ost-Ukraine zogen, bevor auch Ukrainer anfingen, gegen Ukrainer zu kämpften.

In „Mesopotamien“ schreibt Zhadan über eine Zwischenzeit, irgendwann nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und vor dem Krieg im Osten. Er schreibt über sein Charkiw, das wie Mesopotamien zwischen zwei Flüssen liegt: ein eigenes Universum voll mit Tod, Liebe, Leben und voll mit Sex. Und Sex ist auch der Grund, warum Marat lange vor seinem Tod auf die Krim flieht.

Sex, Liebe und Alkohol, das ist die Krim aber nur noch in Zhadans Fiktion. „Ja, sie war eine absolut andere Realität, ein Synonym für das Fest“, sagt Zhadan, während wir in einer Bar in Charkiw über sein neues Buch sprechen und Bier dazu bestellen.

Die Krim kommt zurück!

„Jetzt ist die Krim ein Symbol dieses Krieges, eine Tragödie realer Menschen“, sagt er. „Jemand ist da geblieben, jemand geflohen, jemand freut sich über die Okkupation und jemand wartet auf die Rückkehr der ukrainischen Macht.“ Gibt es tatsächlich Menschen, die daran heute glauben, frage ich überrascht zurück.

„Es wäre dilettantisch zu sagen: Morgen kommt die Krim wieder zurück. Ich weiß nicht wann, aber ich weiß sicher, dass sie zurückkommt, genauso wie das Donbass-Gebiet.“

Zhadan sagt diesen Satz so überzeugt, dass sein Gesicht sich kurz verhärtet, für eine Sekunde wie aus Stein wirkt, er ist vollkommen entschlossen. Und nicht nur er, sondern auch viele andere, die ich in den nächsten Tagen noch treffen werde.Putin hat also nicht gewonnen, frage ich. „Was denn gewonnen?“, antwortet Zhadan. „Es ist höchstens ein Sieg für eine Stunde.“

Und dann kommt es zum Schriftsteller-erklär-mir-den-Krieg-Dialog. Und Zhadan erklärt und erklärt, obwohl alles eigentlich klar ist: Im Land herrscht Krieg. „Dieser Krieg ist lokal, die einen sehen ihn nicht, die anderen wollen ihn nicht sehen.“ Danach verabschiedet Zhadan sich.

Und während ich alleine zu meinem Charkiwer Hotel spaziere, sehe auch ich nichts und niemanden, das und der nach Krieg aussieht, sehe junge Menschen, rauchend vor den Bars, Betrunkene auf Bänken trinkend, küssende Paare, die sich an Häuser lehnen.

So geht Propaganda

Am nächsten Morgen, auf dem Weg zum Freiheitsplatz von Charkiw, sehen die Stadt und ihre Stimmung anders aus als in der Nacht: Zum Beispiel eine Wand in der Nähe meines Hotels. Jemand hat sie gelb angestrichen, durch die Farbe sticht ein dunkler Schriftzug leicht hervor: „Charkiw ist russisches Land“, steht dort geschrieben.

Ein paar Straßen weiter steht ein großes blau-gelbes Zelt. Ein junger Mann sammelt hier Spenden für die verletzten Kämpfer im Donbass. Und wieder ein paar hundert Meter weiter: ein Stand der Nationalen Front, doch er wirkt klein und albern im Vergleich zum anderen Zelt. Hier sammeln zwei Typen Geld für die Kämpfer der Nationalen.

Verlassen sehen sie aus, diese zwei Einsamen, über ihren Köpfen tanzt die schwarz-rote Fahne Stepan Banderas. Mit den Geschichten über diesen ukrainischen Nationalisten und Partisanenführer, der mit den Nazis kollaboriert hat, füttert die russische Propagandamaschinerie heute das Volk, denn wenn sie Ukrainer nicht „Faschisten“ nennt, dann „Banderowzi“.

Als ich Zhadan später noch einmal treffe, frage ich sofort nach den ukrainischen Nationalisten, nach Bandera. „Bandera ist lange nicht für alle, die jetzt im Osten kämpfen, ein Held. Er ist, natürlich, der Held von den Nationalisten.

Ein ruhiges, riesiges Meer

Aber in Wahrheit kämpfen im Osten Menschen mit sehr unterschiedlichen Ansichten und Gesinnungen“, antwortet Zhadan. „Und so geht Propaganda: Entweder bist du für Bandera oder für Putin. Ich aber bin für die Ukraine.“

Und wieder gehen wir durch Charkiw und reden, und Zhadan erklärt mir leicht sarkastisch die „psychedelische Welle des Patriotismus“, die über sein Land zog und jeden zweiten Zaun in Blau und Gelb einfärben musste. „Ich liebe mein Land“ sagt er dann aber auch, spricht den Satz seltsamerweise aus ohne jedes Pathos. Und während ich überlege, wie er das macht, dass er so klingt, stehen wir auf einmal am Freiheitsplatz.

Ein ruhiges, riesiges Meer aus Beton ist dieser Platz, mehr als elf Hektar groß. An einem Ende stand früher mal Lenin, am anderen haben vergangenes Jahr Separatisten das Gebietsverwaltungsgebäude gestürmt.

Prügel im Parlament

Es war der Tag, an dem mir auf meinem Laptop-Bildschirm immer wieder ein- und dasselbe Zhadan-Bild entgegen strahlte: Es zeigte den Schriftsteller, gestützt von zwei Polizisten, über seinem Gesicht ein Schleier aus hellrotem, frischem Blut.

Mit zweihundert Leuten war Zhadan damals im Parlament, als die Pro-Russen und die Russen in das Gebäude einfielen, auf die Maidan-Aktivisten einprügelten. Und auch auf Serhij Zhadan. Und heute, mehr als ein Jahr später, frage ich ihn, ob die Stadt immer noch die Stadt ist, in der er gerne wohnt, nachdem, was hier mit ihm passierte.

„Natürlich. Meine Einstellung zu der Stadt und den Mitbürgern hat sich gar nicht geändert“, sagt er und lächelt schüchtern bis aufrichtig. Und ich verstehe Zhadan nicht.

Nur am Abend ist alles wieder klar: der Charkiwer Musik-Tag. Zhadan und die Sobaki stehen auf der Bühne. Vielleicht tausend Menschen vor ihnen, vielleicht fünfhundert davon springend, fest und entschlossen. Das ist einfach Punk-Rock, das alles ist nicht Politik, denke ich, obwohl es in einigen Sobaki-Songs doch wieder um sie geht, die Politik, aber eher anarchistisch.

Einer der besten Songs lautet auf Deutsch ungefähr so: „Dein Herz – ein Schwamm, dein Hirn – eine Pastete / Geh’ zur Arbeit, füll’ das Budget“. Es geht um das Budget der Politiker, darum, dass sie jemand füttern, dass jemand für sie arbeiten muss.

Nach ihren Konzerten arbeiten Sobaki und Zhadan normalerweise nur am Rockstar-Leben, in Bars, an Theken und am Alkohol. Heute aber bleibt kaum Zeit, sich rock’n’rollhaft zu betrinken. Schon um halb eins fahren Zhadan, Sobaki und auch ich von Charkiw in den Westen, nach Kiew, nachts mit einem Bus, zu ihrem nächsten Auftritt auf dem Festival „Kraina Mriy“.

Soundcheck in Kiew

Während der Fahrt prügeln die kaputten ukrainischen Straßen sich brutal mit dem Whisky in meinem Kopf, in meinem Körper. Der Schlagzeuger, der neben mir in Bus schläft, ist diese Straßen wohl gewöhnt, oder hat einfach weniger getrunken oder viel mehr, so friedlich träumt er, denke ich neidisch. „Sechs Stunden noch“, sagt Kyrill, Fahrer und Freund der Band.

Schlaflos im Bus zwischen den Musikern, erinnere ich mich wieder an meinen mitteldummen Reflex, das Leben dieser Menschen mit Musik und mit Literatur begreifen zu wollen. Dieser Reflex ist wie ein Schluckauf, der mich oft überkommt und zwingt, diese Ihr-Künstler-wie-geht-es-weiter-Fragen zu stellen.

Doch am nächsten Morgen ist er auf einmal ganz verschwunden, dieser unschöne Schluckauf. Wir sind endlich in Kiew, auf dem Festivalgelände, wo abends auch Zhadan und die Sobaki spielen werden. Und dort wieder das Rockstarleben, alles sehr normal: warten auf den eigenen Soundcheck, essen, trinken, immer noch warten, Soundcheck, Pause, essen und trinken und dann der Auftritt.

Und dieser Auftritt ist so ansteckend, dass jeder im Publikum lächeln muss und jeder zweite seine Arme in den Himmel wirft und jeder dritter auch die Beine, zu einem Polka-Pogo-Tanz. „Nu, das ist das Leben“, sagt Mascha, eine Medizinjournalistin, die ich nach dem Konzert hinter der Bühne treffe. Wir reden und wir trinken dann, trinken mit dem Gitarrist, dem Keyboarder und eigentlich mit fast jedem.

Es ist eine dieser spektakulären Festivalnächte, die sich genauso in Berlin, Paris oder in anderen europäischen Städten abspielen würde. Eine Nacht, die jeder ins Unendliche zu ziehen versucht, und die dann doch zu früh vorbei ist. Sobaki müssen heute Nacht wieder zurück nach Charkiw, sie alle wohnen in Zhadans Mesopotamien.

Zum Abschied hupt ihr Bus zweimal, dann sind sie weg. Und wenige Minuten später kommt auch schon Igor, der Unbekannte der Bekannten mit Schusswunde am Arm, fährt vom Konzert drei Leute in das Zentrum Kiews und fährt auch mich.

Igor und Mascha (ihre Namen habe ich besser geändert) kennen sich gut, erzählt sie mir am nächsten Tag in einem kleinen Kiewer Restaurant. Und dann erzählt sie auch von Lou, ihrem schwarzen Mops. Ihn hat sie von einem Freund von Igor geschenkt bekommen. Die Medizinjournalistin hat vergangenes Jahr Transporte für Verwundete der ukrainischen Armee organisiert.

Ein Mops als Dankeschön

Sie kennt sehr gute Ärzte, weiß welche Verletzungen in welchem Krankenhaus am besten behandelt werden können, weiß es, weil sie seit Jahren über Medizin schreibt. „Und einer der Jungs, dem ich damals geholfen habe, hat mir dann Lou geschenkt“, sagt sie. Ein Hund als Dankeschön eines Soldaten?, frage ich etwas verwirrt.

Mascha nickt lachend und zeigt mir dann ein Foto ihres Mopses: Zu große Augen, zu glänzendes und schwarzes Fell, der Körper viel zu massig für die zu kleinen Beinchen und dann sein Blick, der auch noch viel zu traurig ist. Der Krieg – auch so sieht er aus in der Ukraine.

FAZ