Ukrainischer Dichter Juri Andruchowytsch über rauschhaftes oder planvolles Schreiben und die Freiheit des Romans. Die absurde Welt seiner Helden ist hoffnungsvoll, die reale Absurdität im „ostslawischen Dreieck“ nicht.
Die Presse: Sie sollen als sehr junger Dichter angeblich einmal gesagt haben, dass es kriminell sei, nach dem 30. Lebensjahr noch Gedichte zu schreiben. Jetzt sind Sie über 50 und nach Romanen und Essay-Sammlungen längst ein Rückfalltäter. Wie erklären Sie Ihre Meinungsänderung?
Juri Andruchowytsch: Ich weiß nicht, woher dieses Zitat kommt, es wird sehr oft verwendet, aber nur im deutschsprachigen Raum. „Kriminell“ stimmt nicht, das habe ich nicht gesagt. Ich habe mit 22 einen Scherz gemacht. Aber sogar noch Jahre später habe ich tatsächlich behauptet und geglaubt, dass Poesie mit mehr als 30 Jahren peinlich sei.
Ezra Pound hat einmal gesagt, dass man nur als ganz junger oder alter Mensch ein Dichter sein sollte. Demnach war Ihr Band „Exotische Pflanzen und Vögel“ (1991) bereits ein Grenzfall.
Meine Begründung war, dass das lyrische Gefühl eine junge Befindlichkeit sei. Es ist wie die erste Berührung. Wenn die Erfahrung wächst, wenn du alles schon zum x-ten Mal berührt hast, verlierst du diese frische Reaktion deiner innerlichen Antwort. In Wirklichkeit war es bei mir so, dass ich nach einer Pause von neun Jahren wieder Gedichte schrieb, in anderem Stil.
Wie äußerte sich das?
Anfangs hatte ich dazu die Idee, dass ich einen erfundenen Dichter vorstelle, ich sollte nur sein Impresario sein. Das hat nicht geklappt, weil ich die Gedichte vor Publikum bereits zuvor in meinem Namen vorgetragen hatte. Heute bin ich nicht mehr so kategorisch. Aber Pounds Satz von Jugend und Alter hat anscheinend einen sehr tiefen Sinn, wenn es um die poetische Kraft geht.
Ihre Prosa ist so erfindungsreich, dass sie wie ein Gedicht wirkt, etwa der Roman „Zwölf Ringe“ (2003), oder „Perversion“ (1996). Wie kam es zu dieser Entwicklung?
Nachdem die Gedichte mich gelassen haben, als ich 30 wurde, entdeckte ich die Süße der Prosa. Sie versprach viel mehr Freiheit. Damals schrieb ich im Herbst 1990 den Roman „Rekreaziji“ (1992). Das war ein Rausch. Ich war vor allem glücklich, dass ich beim Schreiben immer noch Poet bleiben konnte. Es gab eine lyrische Invasion in die Prosa. Die Helden sind vier Dichter, in meinem damaligen Alter. Die Hauptlinie des Romans ist Poesie als Antikörper der Realität und Teil von ihr. Wenn Journalisten mich fragten, warum ich keine Gedichte mehr schriebe, stellte ich die Gegenfrage: Denken Sie, dass Prosa keine Poesie ist?
1989 bis 1991 haben Sie am Maxim-Gorki-Literatur-Institut Kurse für Fortgeschrittene Literatur besucht. War man den ganzen Tag fortschrittlich? Wie lebte man damals in Moskau, kurz vor und dann mitten im Umbruch in der Sowjetunion?
Es war eine historische Eskalation, alle Prozesse der Befreiung liefen über Moskau. Dass das Zentrum des Imperiums zugleich auch das des Zerfalls war, schien paradox. Das Institut wurde in den Dreißigerjahren gegründet, in der Absicht, dass es den Nachwuchs unter Kontrolle hält. Ich war kein regulärer Student, sondern hatte mein Literaturstudium bereits absolviert und besuchte einen zweijährigen Lehrgang für Leute, die schon etwas herausgegeben hatten, Mitglieder vom Schriftstellerverband waren. Es gab auch Ärzte und Ingenieure, die nebenbei schrieben. Solche Leute sollten literarisch professionell ausgebildet werden, vor allem stilistisch. Streng genommen ist das keine so schlechte Idee. Vor allem für die Russen bei uns war das wichtig für die Karriere.
Was war für Sie in dieser Zeit wichtig?
Für mich bot dieser Lehrgang vor allem die Möglichkeit zu einem freieren Leben. Ich hatte ein Stipendium und genügend Freizeit, um selber zu schreiben. Ich habe auch die interessanten Vorlesungen besucht. Bei uns im siebten Stock, er wurde der siebte Himmel genannt, war ich der Jüngste.
Sie haben damals sehr viel geschrieben, kurz danach erschien der Roman „Moscoviada“, der das Leben im neuen Russland aufspießt. Schreiben Sie wie im Rausch, oder doch immer planvoll?
Ich schreibe immer weniger wie im Rausch, vor allem langsamer als früher. Ich bin nicht mehr so leicht wie damals von einer Idee hingerissen, habe gelernt, längere Zeit zu warten, will sicher sein, dass ich etwas wirklich schreiben will. Damals war ich noch sehr spontan. Mein Publikum, vor allem in der Ukraine, will ich immer wieder überraschen. Ich spiele in diesem Sinne schon mit Erwartungen. Die sollen immer falsch sein.
Ihre Helden sind oft kafkaesk, immer passiert ihnen etwas Absurdes. Ist diese Passivität Bedingung des modernen Lebens?
Meine Figuren sind kontemplativ, betrachten das Dasein aus gewissem Abstand, sind kaum aktiv. In „Moskoviada“ erscheint der Teufel und verführt die Künstler zur Offenheit. In „Perversion“ gibt es eine ganze satanische Organisation, eine unterirdische Struktur. Der Held tritt eigentlich in jedem Roman mindestens einmal in einen unbekannten, mystischen Raum, wo etwas mit ihm passiert, an der Grenze von Sein und Nichtsein. Ich bemühe mich darum, das immer auch etwas parodistisch zu präsentieren.
Worauf sprechen Sie die Ukrainer am meisten an?
Am häufigsten wollen sie wissen, was in meinem Roman wirklich und was fiktiv ist. Wo ich von mir selbst erzähle und wo von den Helden, wo die Grenze zwischen mir und ihnen liegt. Natürlich kann ich das nie überzeugend und definitiv beantworten. Ich werde außerdem ziemlich oft über die aktuelle Politik gefragt und besonders, ob ich selbst kein Politiker werden will. All das fängt gerade wieder an – ich fahre jetzt auf Lesereise in die Ukraine mit meinem neuen Buch „Lexikon der intimen Städte“.
Was ist absurder – die Realität im neuen Russland mit seinen Nachbarn oder die Welt Ihrer Romane?
Es geht um verschiedene Arten der Absurdität, denke ich. Meine Absurdität ist sozusagen in völlig anderer Ästhetik. Und sie ist von großer Hoffnung geprägt, von Erwartung eines Wunders. Da gibt es immer Magie und Geheimnis. Die politisch-gesellschaftliche Absurdität im heutigen „ostslawischen Dreieck“ von der Ukraine, Russland und Belarus ist hoffnungslos und banal.