Im Jahr des 100. Geburtstages von Paul Celan fand in dessen Geburtsstadt das elfte Meridian-Lyrikfestival unter Ausnahmebedingungen statt.
„Erst jenseits der Kastanien ist die Welt. / Von dort kommt nachts ein Wind im Wolkenwagen / und irgendwer steht auf dahier / den will er über die Kastanien tragen.“ Als Paul Celan noch Paul Antschel hieß, schrieb er sich mit diesen Zeilen aus dem beengten Elternhaus hinaus in die weite Welt. Seine jugendlichen Verse waren bereits von Todesahnungen erfüllt. Das dunkle Gedicht „Drüben“ wurde vor wenigen Tagen auf dem Innenhof einer Seitenstraße in Czernowitz vorgetragen – genau hier kam der spätere Dichter am 23. November 1920 zur Welt. Seine Eltern gehörten zu den vielen deutschsprachigen Juden der Stadt, die im Holocaust ermordet wurden. Celan selbst überlebte bis 1944 in einem Versteck, emigrierte nach Kriegsende über Bukarest und Wien nach Paris. Die Lesung seiner frühen Texte am historischen Ort fand jetzt als Teil des seit elf Jahren jährlich begangenen Meridian-Poesie-Festivals statt. Der Rezitator war Peter Rychlo: maßgeblicher Herausgeber, Übersetzer und Multiplikator, ohne den es heute wahrscheinlich weder das Celan gewidmete Festival selbst noch Erinnerungstafeln oder Denkmäler für den Dichter in seiner heute in der Südwestukraine gelegenen Geburtsstadt geben würde.
„Meridian“ ist weit mehr als ein Celan-Festival. Seinen Initiatoren geht es um die lebendige Erinnerung an einen ganzen Kulturraum, der einst zu den wesentlichen Impulsgebern europäischen Denkens gehört hat. Bis 1940 bildete Czernowitz einen einzigartigen kulturellen Schmelztiegel aus ukrainischen, deutschen, rumänischen und nicht zuletzt jüdischen Einflüssen. Neben Paul Celan wurden hier auch u. a. Rose Ausländer, Gregor von Rezzori, Itzik Manger und Aharon Appelfeld geboren. Karl Emil Franzos, Josef Burg, Leopold von Sacher-Masoch und Hermann Bahr verbrachten hier ebenso wesentliche Jahre ihres Lebens wie der rumänische Nationalpoet Mihai Eminescu (1850–1889) oder die heute als Begründerin der modernen ukrainischen Dichtung gefeierte Olha Kobyljanska (1863–1942). Es ist merkwürdig – aber hier, in dieser durch historische Glücksfälle architektonisch fast vollständig erhaltenen, habsburgisch geprägten Provinzmetropole, gibt es ganz offenbar ein magisches Moment, das über Jahrzehnte hinweg zu einer „poetischen Kontinuität“ geführt hat. Gleichzeitig findet die aktuelle literarische Szene ein Podium. Um dies nachzuvollziehen, muss man sich vor Ort begeben. Und genau das ist weit leichter gesagt als getan; erst recht in Zeiten von Covid-19.
Die Pandemie hat in Czernowitz neue Rahmen gesetzt
Auf der heute nach Olha Kobyljanska benannten einstigen Herrengasse drehen allabendlich Hunderte von Menschen ihre Runden. Der überall in Südosteuropa praktizierte „Korso“ flutet hier vom Ringplatz vor dem Rathaus mit dem noch unter Kaiser Franz Joseph verlegten Kopfsteinpflaster bis zu einer Straße mit dem früher so schönen Namen „Neue-Welt-Gasse“ (jetzt, nüchtern: Shevchenka) und dann wieder zurück. Hochzeiten werden gefeiert, Straßenmusiker spielen auf, Luftballons steigen in die Höhe. Das geht so stundenlang, immer im Kreis, mehrheitlich maskenlos. Der Weg führt dabei auch am Paul-Celan-Center vorbei, dem Hauptveranstaltungsort des Meridian-Festivals. Doch hat die Pandemie auch hier, wie überall sonst in der gegenwärtigen Welt, neue Rahmen gesetzt. Sämtliche angekündigten Autoren aus Israel, Rumänien und dem deutschsprachigen Sprachraum haben abgesagt. Nur ein einzelner Journalist aus Berlin ist angereist. Alle Veranstaltungen finden in hybrider Form als Online-Stream statt. Das bringt durchaus Vorteile mit sich: So stehen die Lesungen und Diskussionen auf der Facebook-Seite des Festivals allen Interessenten zur Verfügung, und das auch in deutscher Fassung! Es zeigt sich in der modifizierten Form umso deutlicher, dass die gegenwärtige ukrainische Literatur von ungeheurer Vitalität ist.
Neben den beiden unermüdlichen Poeten Juri Andruchowytsch (Jahrgang 1960) und Serhij Zhadan (Jahrgang 1974) – die in ihrer Heimat wie Popstars gefeiert werden – gibt es inzwischen scharenweise junge und selbstbewusste Schriftsteller, die sprachlich und inhaltlich nach ganz eigenen Wegen suchen. „Meridian“ öffnete sich inzwischen zur Prosa. Höhepunkt war hier die Premiere des 600-Seiten-Opus „Amadoka“ von Sofia Andruchowytsch, in dem sich die Abgründe von mehr als drei Jahrhunderten ukrainischer und damit europäischer Historie zu einem ebenso dichten wie fatalen Kaleidoskop verweben.
Überhaupt fällt das kritische Geschichtsbewusstsein der meisten Veröffentlichungen auf. Fragt man nach den aktuellen Ereignissen im Osten der eigenen Heimat oder im nördlich benachbarten Belarus, so werden die Minen ernst. Seit mehr als fünf Jahren befindet sich das Land in einem partiellen und unerklärten Krieg mit dem übermächtig-imperialen Russland. Rezepte, wie mit diesem Krieg und der eigenen Identität umzugehen sei, gibt es keine, Widersprüche umso mehr. Eine Gymnasiastin etwa fand es mir gegenüber völlig in Ordnung, dass im gegenwärtigen ukrainischen Lehrplan außer Puschkin kein einziger russischer Dichter mehr vorkommt: weder Tolstoi noch Dostojewski, von Majakowski ganz zu schweigen. Freiheit sei zwar ein wichtiges Gut, aber zu viel Freiheit schade der Demokratie, hört man. Die „normalen Leute“ bräuchten eine Orientierung, sonst fänden sie sich in der modernen Welt nicht mehr zurecht.
In Bezug auf die eskalierende Gewalt in Minsk und anderen Orten von Belarus fallen Empathie und Solidarität leidenschaftlich aus. Den Belarussen gegenüber fühlt man sich als große Schwesternnation, die den Prozess der Emanzipation von Moskau bereits vollzogen und den Weg zur Demokratisierung eingeschlagen hat. Auf die Frage, was denn konkret als Hilfestellung geleistet werden kann, verweist die junge Journalistin Olena aus Kiew auf eine ganze Palette an Möglichkeiten. Aufklärung über die Propagandamaschinerie Moskaus zum Beispiel, aber auch durch Online-Geldsammlungen, mit denen die extrem unter Druck stehenden unabhängigen Medien in Belarus unterstützt werden können. Auf die Situation passt überraschenderweise das Ende eines Liebesgedichts von Paul Celan: „Es ist Zeit, dass man weiß! / Es ist Zeit, dass der Stein zu blühen sich bequemt, / dass der Unrast ein Herz schlägt. / Es ist Zeit, dass es Zeit wird.“ Das Gedicht trägt den Titel „Corona“.
Das Lyrikfestival „Meridian“ fand vom 4. bis 6. September in Czernowitz, Südwestukraine statt. Sämtliche Veranstaltungen sind mit deutschen Übersetzungen unter www.facebook.com/meridiancz/ abrufbar. Siehe auch: http://www.meridiancz.com/de/