Czernowitz. In der Monarchie war es eine „Stadt der Bücher“. In der Sowjetzeit war Lesen gefährlich. Nun findet dort das erste Lyrikfestival statt.
Die ukrainische Stadt Czernowitz, zur Zeit der Habsburger Monarchie vielsprachig und multikulturell, war schon sowjetukrainisch, als die Familie von Igor Pomerantsev sich hier niederließ. Doch die magische Strahlkraft dieser Stadt habe unter kommunistischen Vorzeichen weiter gewirkt, erzählt der 62-jährige Lyriker Igor Pomerantsev im SN-Gespräch.
Er emigrierte 1979 nach London. Vor zwei Jahren erwies sich ein Wiedersehen mit der Stadt seiner Kindheit als schicksalhaft: Nun wird mit „Meridian Czernowitz“ ein internationales Lyrikfestival aus der Taufe gehoben. Ab morgen, Freitag, bis zum Sonntag findet es zum ersten Mal statt (siehe www.meridiancz.com). Neben arrivierten Lyrikern wie Juri Andruchowytsch und Julian Schutting werden zahlreiche junge Lyriker aus der Ukraine, Deutschland, Österreich und der Schweiz aus ihren Werken lesen. Zudem wird in Czernowitz heute, Freitag, von österreichischen Literaten eine „Wiener Straße“ eingeweiht.
SN: Woher kam die Idee zu einem Lyrikfestival in Czernowitz?
Pomerantsev: Es war ein Zusammenspiel mehrerer Faktoren. Die Weltwirtschaftskrise hatte die Firma meines 35-jährigen Neffen aus Czernowitz in den Bankrott getrieben. Er rief mich an und fragte um Rat. Da sagte ich spontan zu ihm, dass es an der Zeit sei, die Magie und die positive Energie von Czernowitz zu nützen.
Meine Worte wirkten Wunder! Mein Neffe begann Möglichkeiten zur materiellen Umsetzung meines Ratschlages zu prüfen. Und nach kurzer Zeit war die Idee geboren, in der Stadt, die schon die große Lyrikerin Rose Ausländer als „Stadt der Bücher“ bezeichnet hatte, ein internationales Lyrikfestival zu veranstalten.
Ich selbst kam erst mit vier Jahren als Sohn eines russisch-jüdischen, kommunistischen Militärjournalisten nach Czernowitz. Wir fühlten uns hier zunächst wie Wesen von einem anderen Planeten. Aber die Lesewütigkeit dieser Stadt hat mich kleinen Buben wie ein Bazillus angesteckt.
Wir Kinder lasen zwar nicht Schopenhauer oder Kafka, der in der Sowjetunion zu den verbotenen Schriftstellern gehörte, aber wir verschlangen dafür die Bücher von Thomas Mann. Was Rose Ausländer über die lesewütige Jugend ihrer Zeit schrieb, hatte sich auf magische Weise auch unter totalitären Bedingungen wiederholt, wenngleich ich zugeben muss, dass unser geistige Horizont durch Zensur und zahllose bürokratischen Hürden eingeschränkt war.
SN: Welche langfristigen Ziele hat dieses Lyrikfestival?
Pomerantsev: Alle postkommunistischen Länder leiden an einem schwerwiegenden Problem: an der Diskontinuität des historischen und kulturellen Gedächtnisses, an einem Bruch in der kollektiven Erinnerung. Überall versuchten die totalitären kommunistischen Machthaber, die historische Vergangenheit auszuradieren.
Anders als in England oder Frankreich muss das verschüttete historische und kulturelle Gedächtnis in Russland oder in der Ukraine erst wieder ausgegraben werden. Und das ist das wichtigste Ziel unseres Festivals.
Denn wir waren in gewissem Sinne ja Barbaren. Wir lasen Thomas Mann und Tolstoj, Dostojevski und Faulkner, aber von Paul Celan, der in unserer unmittelbaren Nachbarschaft gelebt hat, hat uns niemand erklärt. Ich habe von diesem Lyriker erst gehört, als ich zwanzig Jahre alt war.
SN: Das Lyrikfestival, das ab nun alljährlich stattfinden soll, trägt in Anspielung auf einen Text Paul Celans über Czernowitz den Namen „Meridian“. Gleichzeitig wollen Sie moderne Lyrik nach Czernowitz bringen. Ist da kein Widerspruch?
Pomerantsev: Moderner ukrainischer und deutschsprachiger Lyrik kommt sogar eine wesentliche Bedeutung zu, denn ich wehre mich gegen die Mythologisierung der literarischen Koryphäen des alten Czernowitz.
Die Mythen, die sich um Paul Celan und die anderen lokalen Größen der Vergangenheit ranken, haben diese Stadt zum Denkmal erstarren lassen und lähmen ihre Weiterentwicklung. Rose Ausländer hat Czernowitz als „ertrunkene“ Stadt bezeichnet, als eine Art Atlantis. Aber das stimmt nicht.
Diese Stadt hat weitergelebt. Czernowitz hat die Herrschaft der Nazis und der Kommunisten wie den Übergang von der hier früher herrschenden deutschen zur ukrainischen Sprache überlebt, und trotzdem hat es nichts von der Strahlkraft eingebüßt. Es ist ein magischer Ort, und ich bin glücklich, diese Magie gespürt zu haben.
SN: Die kommunistischen Behörden haben sich von dieser Magie wenig beeindrucken lassen. Im Jahr 1978 wurde Ihnen nahe gelegt, in den Westen auszuwandern. Was waren die Gründe?
Pomerantsev: Es gab keinen anderen Grund als meine grenzenlose Liebe zur Literatur und meine unersättliche Sehnsucht nach Büchern. Ich war nie ein politischer Dissident und habe stets nur für das Recht gekämpft, alle Bücher lesen zu dürfen, die ich lesen wollte, und alle Bücher weiterzugeben, die ich für lesenswert hielt. In der Sowjetunion war das bereits an der Grenze zum Kriminellen.
SN: Sie sind erst 35 Jahre nach Ihrer Emigration nach Czernowitz gefahren. Warum so spät?
Pomerantsev: Es war die zutiefst menschliche Angst vor dem Ausbruch starker, sentimentaler Gefühle, die mich lange lähmte. Solange ich weit weg war, wähnte ich mich unverwundbar. Aber irgendwann begriff ich, dass man seine Ängste nur überwinden kann, wenn man sich ihnen stellt.
Vor zwei Jahren stellte ich in Czernowitz mein Buch „KGB und andere Gedichte“ vor und versuchte so zu tun, als wäre ich an einem unbekannten Ort. Aber vom geheimnisvollen Zauber der Stadt bin ich bereits wieder angesteckt.
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