Wer im postkommunistischen ukrainischen Cernivtsi dem mythenumwobenen Czernowitz der Habsburgermonarchie nachspüren will, hat es schwer. Die Menschen, die diese „Stadt der Bücher“ einst mitprägten und berühmt gemacht haben, leben nicht mehr. Ein internationales Lyrikfestival , das erstmals im September 2010 in Cernivtsi stattfand, will die verschwundene Welt des jüdischen Dichters Paul Celan wieder wachküssen. Verschüttetes Kulturerbe soll zum Dünger für neue, grenzumspannende Begegnungen von Dichtern und Lyrikliebhabern werden.
Die Kinokasse hat längst geschlossen und es regnet. Aber immer größere Menschentrauben lösen sich aus der Dunkelheit der umliegenden Strassen, um die Verwandlung des „Czernivtsi“ in die prunkvolle Synagoge zu erleben, die sich in k.& k. Zeiten eine selbstbewusste jüdische Gemeinde errichten ließ. Weder den Hitlerdeutschen noch den sowjetischen Eroberern ist es zwischen 1939 und 1945 gelungen, dieses Gotteshaus zu sprengen. Die ukrainischen Kommunisten gingen pragmatischer vor. Die Fenster wurden zugemauert, die Kuppel abmontiert und das Gebäude zum Kino umfunktioniert.
Mehr als fünf Jahrzehnte später kehrt die Vergangenheit für einen kurzen, magischen Augenblick wieder zurück: als Videoprojektion tauchen hinter der dunklen Fassade des Kinos immer schärfer die Umrisse der alten Synagoge auf.
Max Schickler hat den „Templ“ auch von innen gekannt. Er ist einundneunzig und zählt sich zu den letzten „echten Czernowitzern“ im ukrainischen Cernivtsi. Der Vater, k.& k. Unteroffizier im Ersten Weltkrieg, gehörte schon dem assimilierten jüdischen Bürgertum an: „Daheim wurde nur deutsch gesprochen, auch nach dem Zusammenbruch der Monarchie, unter den Rumänen. Jiddisch sprachen die armen, ungebildeten Juden in der Vorstadt“.
Erst der zweite Weltkrieg, fährt Schickler in perfektem Deutsch fort, habe die alt-österreichische Welt zerstört, in der auf kleinstem Raum neben Rumänisch und Deutsch auch ruthenisch, polnisch, armenisch und jiddisch gesprochen wurde und für alle Glaubensbekenntnisse Platz war.
Im Jahr 1938 wurde Max infolge erstarkender faschistischer Tendenzen im rumänischen Königreich nicht mehr zum Hochschulstudium zugelassen, wenig später wurde den Juden die rumänische Staatsbürgerschaft aberkannt. Nach Rumäniens Kriegseintritt an der Seite Hitlerdeutschlands 1941 setzten Pogrome, Massenexekutionen und Deportationen nach Transnistrien ein. Schickler blieb die Erfahrung rumänischer Arbeitslager und nazideutscher KZs erspart. Er war mit der Roten Armee nach Osten gezogen und überdauerte den Krieg als Übersetzer für deutsche Kriegsgefangene. Nach dem Krieg nahm er wieder seine alte Arbeit in einer Czernowitzer Strumpffabrik auf, aber „nichts war mehr so wie früher“.
Die meisten Überlebenden der Shoah wanderten aus – viele in die Vereinigten Staaten oder nach Israel, aber auch nach Frankreich wie der junge Dichter Paul Celan, den die Dämonen der Erinnerung an die Gräuel des Krieges im Jahr 1970 in den Selbstmord trieben. Dem als Paul Antschel geborenen Lyriker war auch das erste internationale Lyrikfestival „Meridian“ in Cernivtsi Anfang September gewidmet.
Die Juden, die ihre alte Heimat nicht rechtzeitig verlassen hatten , wurden in der kommunistischen Ukraine abermals zu Opfern – diesmal eines staatlich verordneten Antisemitismus. Der im Vorjahr verstorbene jiddische Schriftsteller Josef Burg, der im Krieg nach Uzbekistan geflohen war und seit 1959 wieder in Czernowitz lebte, mußte weitere vierzig Jahre auf die Veröffentlichung seines Erzählbandes „Dos leben geit waiter” warten.
Igor Pomerantsev, der geistige Vater des Poesiefestivals „Meridian“, erinnert sich noch gut an diese Zeit. Sein Vater, ein russischer Militärjournalist, war Anfang der 1950er Jahre nach Czernowitz versetzt worden und arbeitete hier bei einer Tageszeitung. „Ein Privileg, das mein jüdischer Vater nur seiner kommunistischen Gesinnung verdankte“. Während den Vater das antisemitische Klima in seinem Umfeld peinigte, war Czernowitz für Igor ein kleines Israel, wie er in seinem Essay „Czernowitz. Erinnerungen eines Ertrunkenen“ beschreibt. Freilich hätten in dieser „jüdischen Stadt im sowjetischen Imperium“ zu dieser Zeit nicht mehr die auffallend elegant, aber altmodisch gekleideten, gebildeten österreichischen Juden den Ton angegeben. Das Straßenbild prägten vielmehr aus Bessarabien zugewanderte jüdische „Messerstecher, Nutten, Schwarzwechsler und Wunderknaben“. Ende der 1960er Jahre gingen auch sie weg – sie wanderten nach Israel aus. „Nach und nach stieg das Bächlein an, verwandelte sich in einen breiten Strom und trat schließlich endgültig über die Ufer“, schreibt Pomerantsev, der 1979 ebenfalls die Koffer packte und die Stadt seiner Kindheit erst nach mehr als drei Jahrzehnten wieder besuchte. Als gefeierter Buchautor und Radiojournalist bei Radio Free Europe /Radio Liberty in London und Prag.
Auch Max Schickler kam trotz seiner schlechten Augen und Schmerzen im Bein zu Pomerantsevs Lesung im Rahmen des Lyrikfestivals. Aber noch lieber hörte er den Autoren aus Deutschland, Österreich und der Schweiz zu: “Es gibt keine Deutschen mehr in Czernowitz, mit denen ich mich unterhalten könnte“. Und ganz nebenbei fügte er hinzu, dass er wie sein großer Landsmann Paul Celan das „Vierte Staatsgymnasium“ in Czernowitz besucht habe. Mehr konnte der alte Mann nicht mehr erzählen, “Ich habe Celan nicht gekannt. Er war ein Jahr jünger als ich und noch nicht berühmt!“.
Heute erinnert eine kitschige Bronzetafel am Eingang zu Celans Geburtshaus in der Saksaganskogostraße an den in der kommunistischen Ukraine totgeschwiegenen jüdischen Dichter. Seit 1992 gehört auch eine mit österreichischer Finanzhilfe errichtete Büste Celans zu den Pilgerstätten aller Czernowitz-Touristen.
Sidi Thal hatte weniger Glück. Von der Gedenktafel für diese berühmte jüdische Schauspielerin der 1930er Jahre am Eingang zur Czernowitzer Philharmonie ist nur ein frischer Farbfleck geblieben. Obwohl sie eine der ganz wenigen Künstlerinnen war, die auch nach der Liquidierung aller jüdischen Theater in der Sowjetunion Mitte der 1950er Jahre auftreten durfte und den Titel «Verdiente Künstlerin der Ukraine» erhielt, wurde ihr Konterfei auf die Rückseite des Gebäudes verbannt.
Kein Zufall. Nach der „Orangen Revolution“ hat sich das Leben für die letzten Juden der Stadt abermals verschlechtert. Der wiedererwachte ukrainische Nationalismus ging mit wachsender Einschüchterung aller Minderheiten einher Am stärksten schrumpfte im ersten Jahrzehnt der ukrainischen Unabhängigkeit die jüdische Bevölkerung des Landes – von landesweit 15.600 auf 1300 Personen.
Da jedoch alles Jüdische, das der Verklärung sprich Vermarktung der viel zitierten „Stadt der Bücher“ Czernowitz dienlich sein kann, inzwischen gefördert wird, ist Hoffnung angebracht. Ein beredtes Beispiel für Bemühungen um Wiedergutmachung: Mitte der 1990er Jahre wurden am Treppengeländer des Jüdischen Kulturhauses in Czernowitz ganz besondere Schweißarbeiten durchgeführt. Davidsterne, denen in kommunistischen Tagen zwei Zacken abgeschlagen wurden, haben durch Anschweißen der fehlenden Zacken wieder ihre ursprüngliche Bedeutung zurück gewonnen. Aber zu Hoffnung geben auch die vielen jungen Menschen Anlass, die im Rahmen des Lyrikfestivals ins „Deutsche Haus“ strömten, um die Paul Celan gewidmete Theatercollage „Der Sand aus den Urnen“ aus der Produktion des „unabhängigen ukrainischen Theaterlabors“ zu sehen. Zu symbolstarken Bildern der Gewalt und des Grauens, die das europäische zwanzigste Jahrhundert prägten, läuft eine gespenstische Klangspur: Celans erschütternde, von ihm selbst gelesenen Gedichte und Zitate aus seiner privaten Korrespondenz.
Vielen Jugendlichen war die jüngste Geschichte von Czernowitz als Folge jahrzehntelanger sowjetischer Indoktrination nur rudimentär bekannt. Dazu kommt, dass die meisten Zeitzeugen tot, vertrieben, oder vor Angst verstummt waren. Aber dank engagierter ukrainischer und ausländischer Historiker sowie unermüdlicher Übersetzer werden unter Voraussetzung stabiler demokratischer Verhältnisse in der Ukraine mit der Zeit immer mehr Schichten der Vergangenheit freiliegen. Die oberste Schicht liegt buchstäblich auf der Strasse: Die Kanaldeckel aus der alten Kaiserzeit mit der Aufschrift: “Stadtmagistrat Czernowitz“ sind nicht zu übersehen.
Veröffentlicht in Illustrierte Neue Welt, Dezember 2010/Jänner 2011