Bleierne Schwere
Er berichtet, dass seine Einheit an diesem Freitag ganz Schlimmes und Tragisches erlebt hätte. Einige seiner Jungs seien schwer verletzt. Erst da wird dem Publikum klar: Die Frau, die da vorne im gestreiften Kleid alles so stoisch erträgt, das ist seine Frau. Ja, Iryna Tsylik und Artem Tschech, sie sind ein Ehepaar und Eltern eines Teenagers. Und das gepflegte Heim mit den Bildern an der Wand, aus dem er sich meldet, das ist ihr gemeinsames Heim. Gemeinsam ist das Autoren- Quartett im Augenblick auf Tour durch Deutschland, sie waren schon in Hamburg, in Braunschweig, in Düsseldorf und in Stuttgart zu Gast – der Termin in Regensburg, gemeinsam mit dem Europaeum, also dem Ost-West-Zentrum an der Universität Regensburg veranstaltet, bildet den Schluss-Stein dieser Reise, die im Rahmen des Projekts „Verstärkung des Klangs ukrainischer Stimmen in Europa“ stattfindet. Und sie haben einen Essayband im Gepäck, der den Titel „State of War“ trägt und in ukrainischer und in englischer Sprache vorliegt. Aber wie gesagt: Die Sprachbarriere, sie wird auf leichteste Weise durch die nahezu simultane Übersetzung überwunden – was aber bleibt, ist die bleierne Schwere dieser Gegenwart, die – je nach Zeitrechnung nun mehr seit neun beziehungsweise seit eineinhalb Jahren anhält und von diesem so sinnlosen wie nicht enden wollenden Krieg gezeichnet ist. Igor Pomeranzew ist der ältesteamPodium– schon inden 1970er Jahren war er das, was zu Sowjetzeiten denjenigen als Kainsmal anhaftete, die sich als nicht einverständig mitdenGegebenheiten des real existierenden Sozialismus sowjetischer Prägung erklärten und deshalb als „Dissidenten“ drangsaliert wurden. Heute lebt er als Radiojournalist in Prag – in der Hauptstadt jenes Landes also, das gut 50 Jahre vor der Ukraine das Trauma einer russischen Okkupation erleben musste. In seinem Essay „Mein erster Luftschutzkeller“ berichtet er von einer frühmorgendlichen AnkunftamHauptbahnhof der ukrainischen Kapitale. Der Bahnsteig ist bevölkert von Kriegsverletzten – und eine Stunde später wird Luftalarm ausgelöst. Er steigt hinab, in die U-Bahn-Schächte, und arbeitet im Geist an einer Reportage über einen Mann, der hier am Bau jener Station beteiligt war, die benannt ist nach dem Nationaldichter Taras Schewtschenko. Er erlebt ein Gewitter an Assoziationen, sieht vor seinem Auge Julio Cortazar in der Pariser Metro und in der U-Bahn von Buenos Aires, denkt an Antoine Saint-Exupéry, der nicht nur den „Kleinen Prinz“, sondern auch eine Reportage mit dem Titel „Minen in der Nacht“ geschrieben hat – in der das Stimmengewirr in den Schützengräben nachhallt.
Stoischer Optimismus
Und so taucht Regensburg ein, in dieses komplexe Geschehen. Artem Tschech lässt in „Musik für den Soldaten“ das nachhallen, was er als Verteidiger seiner Heimat hört. „Wenn es im Inneren brennt und schmerzt, wenn ich schreien oder mich in die Einsamkeit einmauern möchte, dann höre ich Musik.“ Am liebsten die, die von Frauen gesungen wird. Und Iryna Tsylik, die als Regisseurin internationalen Ruhm genießt und beim Sundance-Festival schon ausgezeichnet wurde, sie liest denText „Eins zwei drei“. Darin setzt sie den Schrecknissen der Gegenwart einen stoischen Optimismus entgegen: „Wir meistern völlig unvergleichbare Herausforderungen. Was den einen abhärtet, wird anderen gnadenlos das Rückgrat brechen. Also: Aufgepasst, lasst uns behutsamer sein. In Wahrheit wisst Ihr gar nichts über mich. Und ich weiß gar nichts über Euch.“ Genau dieses Geheimnis zu ergründen – dazu gibt es Literatur. Und Abende wie diese.
Von Peter Geiger
Mittelbayerische Zeitung 2023.07.05 – Artikel hier lesen
5. Juli 2023