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Der Freitag: In der Ukraine fand trotz Krieg zum 15. Mal das europäische Literaturtreffen Meridian Czernowitz statt (Reportage von Ulrike Almut Sandig)

Ulrike Almut Sandig

Wer weiß, ob man sich wiedersieht

Literatur In der Ukraine fand trotz Krieg zum 15. Mal das europäische Literaturtreffen Meridian Czernowitz statt. Es heißt in diesem Jahr nicht Festival, zu viele Tote sind zu beklagen

Diese Reise beginnt vor der Reise. Am vierten September, ich bin kaum aufgestanden, poppt in der Chatgruppe des Poesiekollektivs Landschaft, dessen Mitglied ich bin, eine Nachricht auf. Hi Grrz, I heard about Lviv. Are you safe?, lese ich. Stunden zuvor waren mehrere Menschen im westukrainischen Lwiw durch russische Raketen- und Drohnenangriffe ums Leben gekommen. Grigory Semenchuk, Dichter, Musiker und seit vielen Jahren mein Bühnenpartner, schickt ein paar Videos. Er sieht blass aus. Letzte Nacht habe er gedacht, wie gut sein Leben mit uns doch gewesen sei. Life is phantastic, sagt er und lächelt. Eine befreundete Übersetzerin, die mit Mann und zwei Kindern ebenfalls in Lwiw lebt, schreibt mir, ihre Schwiegermutter sei ausgebombt. Die Sorge um meine Freunde und Kollegen, ich trage sie wie einen Koffer voller Trümmer mit mir herum.

Am Morgen darauf fliege ich nach Wien. Ich bin auf dem Weg nach Czernowitz, das literarische Zentrum Europas. In der Hauptstadt der Bukowina lebte bis zur Besetzung durch die Sowjetunion eine bunte Einwohnerschaft aus Juden, Deutschen, Rumänen, Ukrainern und Polen. In deutscher Sprache schrieben hier unter anderem Rose Ausländer, Selma Meerbaum-Eisinger und auch Paul Celan. Das Literaturfestival Meridian Czernowitz knüpft an diese multikulturelle Landschaft an. Trotz Pandemie und Krieg lädt es im 15. Jahr in Folge europäische DichterInnen zu Lesungen und Austausch ein.

Am Gate treffe ich meine Schriftstellerkolleginnen Ursula Krechel und Kookbooks-Verlegerin Daniela Seel. Wir warten auf unseren Anschlussflug ins rumänische Iași, als meine soeben heruntergeladene Alarm-App losheult. Während der letzten drei Kriegsjahre ist Czernowitz zwar nicht getroffen worden, aber angegriffen wird es trotzdem. In Wien stößt Igor Pomerantsev aus Prag zu uns. 1976 wurde der russischsprachige Dichter vom KGB verhaftet. Nach seiner Emigration aus der Sowjetunion arbeitete er unter anderem für den BBC. In seiner Heimatstadt gründete den Meridian Czernowitz. Kaum ist unsere Maschine oben, muss sie schon wieder hinunter. Einem Passagier geht es schlecht, er muss wiederbelebt werden. Also Notlandung im slowakischen Košice. Wie fragil das Leben ist, denke ich.
Viel zu spät landen wir schließlich in Iași, wo uns ein nervöser Fahrer erwartet. Schaffen wir es noch vor der Sperrstunde nach Czernowitz? Wie ein Besengter rast das Sammeltaxi durch die kleiner werdenden Dörfer. An der Grenze halten wir an und warten, obwohl außer uns kaum jemand hinüberwill. Die Stille dröhnt. Vor den Kontrollhäuschen stromern Hunde. Das müssen Border Collies sein, witzele ich. Keine Scherze vor EU-Grenzpolizisten, ermahnt mich Igor. Die verstehen keinen Spaß. 

Weiter fahren wir durch die unverändert liebliche Bukowina, ihre sanften Spätsommerhügel im Abendlicht. Nur die Straßen werden schlechter. Kurz vor Sperrstunde erreichen wir Czernowitz. Alles ist schon wie leergefegt. Viele Häuser liegen im Dunkeln, weil der Strom nach Stadtteilen abgeschaltet wird. Ich falle ins Bett, die Nacht verläuft ruhig. 

Erst am Morgen stelle ich fest, dass ich mich in der schönsten Straße der Stadt befinde. An der autobefreiten Flaniermeile, die nach der ukrainischen Dichterin und Feministin Olha Kobyljanska benannt ist, sitzen Menschen in fantasievoll geschmückten Cafés oder lesen auf Bänken im Schatten. Eine Blaskapelle älterer Herren mit Hosenträgern spielt wie für sich allein. In eleganten Shops werden Süßigkeiten und Kleider ukrainischer Labels und verkauft, aus einer Musikschule ertönt klassischer Gesang. 

Erst auf den zweiten Blick fällt auf, dass die jungen Männer fehlen. Der Angriffskrieg ist auch hier ins dritte Jahr gegangen. Viele dienen in der Armee; andere bleiben zu Hause, um der Rekrutierung, die oft auf eine Pflichtkontrolle des Militärdokuments folgt, zu entgehen. Am Rathausplatz sehe ich Fotos von Gefallenen. Ein Chor singt zu ihrem Gedenken, die Leute hören still zu. Die Stadt wirkt golden, unzerstört – und in Trauer. 

Auch der Meridian Czernowitz nennt sich in diesem Jahr nicht Festival. Zu viele Tote sind zu beklagen, darunter auch Schreibende. Ich denke an das Foto von Maksym Kryvtsow, das Anfang des Jahres in meinem Facebook Feed auftauchte. Es zeigt ihn uniformiert und schlafend, seine rote Katze, die sich ihm an der Front angeschlossen hatte, an ihn geschmiegt. Jetzt stehen Schreibende aus Deutschland, Österreich, der Schweiz und der Ukraine dichtgedrängt im Celan-Literaturzentrum auf der Kobljanska-Straße und halten eine Schweigeminute ab. 

Die ukrainischen Dichter und Dichterinnen sind fester Bestandteil der internationalen Lyrikszene. Im eigenen Land erleben sie einen anhaltenden Boom. Neben Sachbüchern würden jetzt vor allem Gedichtbände geschrieben, sagt Evgenia Lopata, künstlerische Leiterin des Literaturfestivals. Für Romane finden die Autoren und Autorinnen nicht die Zeit, sie werden in ihren Berufen gebraucht. Die ukrainische Lyrikszene arbeitet in Unis und Fernsehredaktionen, Theatern und Bands – und in der Armee. 

Diese Poesie, die aus Erfahrung spricht, wird nicht nur vom klassischen Lesepublikum gefeiert. Oksana Rubaniak, die seit Beginn der russischen Großinvasion als Freiwillige in der Armee kämpft, wurde im von der Ukrayinska Pravda als eine von hundert wichtigsten ukrainischen Frauen gelistet. Im selben Monat war sie auf dem Cover der Vogue Ukraine. In Czernowitz stellt ihren neuen Gedichtband „Weg des Lebens“ vor.  

Vor zahlreichem Publikum tragen wir Gedichte vor. Man sitzt dicht gedrängt, fragt viel nach, man kauft Bücher, lacht und weint. Nach meiner Lesung küsst mich eine Frau aus dem Publikum auf beide Wangen. Es ist ein zerbrechliches Glück, das beim nächsten Verlust verfliegt. Aber es ist dennoch Glück. 

FRAGILE, so heißt ein vom Literaturhaus Stuttgart, dem Kooperationspartner des Meridians 2024, kuratierter Briefwechsel von 14 AutorInnenpaaren. Da unterhält sich Ulf Stolterfoht mit Igor Pomerantsev über die vielseitige Funktion von Kellern, ohne den Krieg, den Elefanten im Raum, beim Namen zu nennen. Auch die Dichterin und Filmemacherin Iryna Tsilyk wehrt sich in einem Brief an Daniela Seel gegen den Anspruch, für die Toten und die Lebenden sprechen zu müssen. Sie erzählt, dass ein Brigadekollege ihres ebenfalls in Czernowitz lesenden Mannes Artem Tschech nach einem verlustreichen Kampfeinsatz nicht mehr spricht. Wer würde es wagen, jetzt seine Stimme zu sein?  
Es ist Freitagnacht in Czernowitz, als mein Handy wieder Luftalarm meldet. Nach den Einschlägen mitten im Zentrum von Lwiw hatte Grigory mir geraten, die Luftschutzkeller aufzusuchen. Ich taste mich durch das stockdunkle Hotel, bis ich vor der Tür stehe, auf die die Rezeptionistin beim Check-In gezeigt hatte. Sie ist verschlossen. Niemand gehe hier noch rein, höre ich am Tag darauf. Nach so vielen Kriegsmonaten habe man nicht mehr die Nerven dafür.

Allen ukrainischen SchriftstellerInnen, mit denen ich spreche, ist die Müdigkeit anzuhören. Auch das Schreiben über Trauma erschöpft sich. Ostap Slywynsky dessen neues Buch in Übersetzung von Maria Weissenböck unter dem Titel Wörter im Krieg (edition fotoTAPETA) erschienen ist, erzählt mir, wie er 2023 seine literarische Arbeit neu ausrichten musste, um die Erfahrung des Krieges überhaupt reflektieren zu können. Die ukrainische Literaturszene hat den ersten Schock hinter sich gelassen. An seine Stelle tritt eine literarische Entschlusskraft, von der wir Deutschen uns im Nachdenken über die Zerbrechlichkeit von Demokratie eine Scheibe abschneiden können. 

Wir brauchen eine neue Sprache, fordert auch der Washingtoner Publizist Peter Pomerantsev auf dem Podium im vollbesetzten Bunker. Die Welt müsse begreifen, wie man kämpft. Damit meint er einen globalen Kampf gegen Angriffe auf demokratische Systeme. 

Sonntag abend. Ich stehe vor dem Restaurant Bartka, wo der Meridian Czernowitz ein europäisches Weinfest ausrichtet. Der Krieg scheint wieder weit entfernt. Junge Frauen tragen Trachtenkleider zu High Heels, ein Mann in Huzulen-Weste spielt traditionelle Flöte zu House Music, weiter hinten steht ein Grill von der Größe eines Kinderpools. Dazwischen extrem gut besuchte Veranstaltungen von Juri Andruchowytsch, Serhij Zhadan (per Videocall) und meinem Reisegefährten Igor Pomerantsev. Bis kurz vor Sperrstunde wird gefeiert. Wer weiß, ob man sich wiedersieht.