Die Lebendigkeit der literarischen Szene in der Ukraine ist faszinierend. Schriftsteller behaupten ihre künstlerische Autonomie und trotzen dem Krieg im Osten des Landes, zum Beispiel Juri Andruchowytsch. Eine Reise nach Kiew, Lemberg, Czernowitz und Odessa.
Juri Andruchowytsch: „Alle Bürger der ganzen Ukraine. Uns eint jetzt etwas, das man im Westen vor allem hier in der Zone von Komfort und Sicherheit, inmitten des sogenannten alten Europa, immer schlechter versteht, das Leiden.“
So der vielfach ausgezeichnete ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch bei der Eröffnungsrede der Internationalen Buchmesse in Wien im November 2014. Ihn empört die Apathie des westlichen Europas, das diesen Krieg nicht wahrhaben will und das er mit seiner Rede aufrütteln will:
„In der Ukraine wird Blut vergossen, und das ist noch milde ausgedrückt, denn wenn ich anfange zu beschreiben, auf welche Art Blut vergossen worden ist, dann würden Sie erschrecken. Ich belasse es dabei zu sagen, dass die Ukraine in eine Zone von Tod und Grausamkeit geraten ist, eine Zone entsetzlicher und bitterer Prüfungen. Das geschah nicht aus ihrem freien Willen. Sie ist nicht dorthin gestrebt, sondern zu Ihnen, nach Europa, in eine ganz entgegengesetzte, warme und komfortable Zone. Aber wie es scheint, musste sie dorthin geraten, wo sie jetzt ist. Sie wurde gewaltsam dorthin getrieben, aber nicht etwa durch irgendwelche mystischen Kräfte, sondern ganz einfach durch eine militärische Macht.“
Bei einer Reise ein Jahr später durch die westliche Ukraine, durch Galizien und die Bukowina, spürt die Besucherin schnell, dass die Atmosphäre in der Bevölkerung auch hier, fern vom Krieg im Osten des Landes, nervös aufgeladen ist. Kaum eine Familie, die nicht Angehörige oder entferntere Verwandte im Krieg hat. Auf den Straßen sieht man Soldaten in kleinen Gruppen, an den Bahnhöfen sammeln sich die Kämpfer, darunter viele Freiwillige, um an die Front zu fahren. Der Krieg liegt wie ein Albtraum über dem ganzen Land. Die Stimmung ist gedrückt, aber zugleich aufgeladen von einem patriotischen Gefühl, sich nicht besiegen lassen zu wollen.
Die Macht der Worte
Im galizischen Lemberg, in einer belebten Straße nahe der Armenischen Kirche, habe ich einen jungen Dichter beobachtet, der dort über mehrere Stunden leidenschaftlich seine Gedichte deklamierte. Für mich als Ausländerin waren nur einzelne Worte zu verstehen: Soldaten, Barrikaden, Maidan, Korruption. Die Richtung war klar, der Poet wollte kein Geld, er wollte mit der Macht der Worte aufklären.
Kaum ein Schriftsteller oder eine Schriftstellerin in der Ukraine, die nicht literarisch Stellung bezieht und sich einmischt. Mit an vorderster Front steht der Kult-Poet und Sänger Serhij Zhadan, er lebt im Osten der Ukraine, in Charkiw, nur 50 Kilometer von der Grenze zu Russland entfernt. Unermüdlich ist er mit einer Band und zu Lesungen im ganzen Land und auch in Russland unterwegs.
„Befreite Gebiete“ lautet der ironische Titel einer seiner jüngsten reportagehaften Erzählungen über den Krieg:
„Der Winter wird immer realer und unvermeidlicher, hier im Osten, in der flachen Steppenlandschaft, ist er besonders unangenehm, es gibt hier nichts, wo man sich verstecken kann, der Wind fegt über Straßen und Plätze, kommt von der anderen Seite des Flusses, bläst in Richtung Grenze, setzt hinüber auf das benachbarte Territorium…
Der alte VW-Bus, in dem wir unterwegs sind, ist voll beladen mit Medikamenten, warmer Kleidung und Schuhen. Die freiwilligen Helfer wissen, dass an einer Straßensperre alles gebraucht wird, von Kleidung bis zu den herkömmlichen Akkus. Die Soldaten der regulären ukrainischen Armee stehen wochenlang im Feld, der Staat erweist sich in dieser Situation als traditionell schwerfällig und viel zu langsam, deswegen kümmern sich die einfachen Bürger um die Armee….Andrij fährt regelmäßig von Charkiw in den Donbass, er hat feste Routen, pflegt Verbindungen zu bestimmten Einheiten. Mich und Hrzy, den Musiker einer Kiewer Band, nimmt er eher zur Unterstützung mit, damit wir den Soldaten etwas vorlesen, mit ihnen reden und selbst was sehen können.“
Serhij Zhadan macht schon seit fast zehn Jahren Musik mit der Pop-Band ‚Sobaki v kosmose‘ – zu deutsch ‚Hunde des Weltalls‘ – aus dem ostukrainischen Charkiw. Gemeinsam reisen sie durch Städte und Provinzen, weil sie spüren, dass der Hunger nach Kultur groß ist. Kein Literaturfestival, wo Zhadan nicht mit seiner Truppe aufträte:
Zhadans Erzählung „Befreite Gebiete“ endet in einer Mischung aus Zorn und Trauer:
„Das Land wird nicht nur durch den Krieg auf eine Bewährungsprobe gestellt, das Land erlebt darüber hinaus auch eine Prüfung in Mitgefühl, in der Fähigkeit, gemeinsam innerhalb derselben Grenzen zu leben und Toleranz zu üben, sich gegenseitig verstehen zu müssen. Das alles war auch früher schon nicht einfach und endete von Zeit zu Zeit mit einem Regierungswechsel oder vorgezogenen Parlamentswahlen. Aber jetzt, wo es nicht nur um unterschiedliche Vorstellungen vom gemeinsamen Leben, sondern um die Notwendigkeit des gemeinsamen Überlebens geht, sind diese Fragen besonders brennend und die Antworten darauf besonders unangenehm. Das Wichtigste ist, dass man diese Fragen gar nicht vermeiden, sie nicht hinausschieben kann. Man kann nicht tun, als ob sie nicht da wären. Sie werden weiterhin vor uns stehen, uns die Realität aufzeigen, uns auf die Erde holen, sie werden uns zwingen, nach Auswegen zu suchen, sie werden uns im Weg stehen. Wie alle die Sperren auf den Straßen, die aus dem Donbass führen.“
Literatur im Angesicht des Krieges ist für alle Künstler und Kulturschaffenden eine Herausforderung. Die einen sind ihr gewachsen, die anderen nicht unbedingt, wie Zhadan feststellte, als ich ihn im Herbst beim Meridian Lyrik-Festival in Czernowitz traf:
„Die Ukraine lebt diesen Krieg, nix Lokalkonflikt. Den Krieg fühlen alle Leute, die hier wohnen. Viele Autoren schreiben davon und fahren regelmäßig nach Osten, in den Donbass, mit Lesungen. So ist heute die Situation. In der Ukraine gibt es schon viele Bücher über den Krieg, Prosabücher, Reportagen, Lyrikbände. Nicht alle sind gut und interessant. Muss man ein bisschen Zeit geben. Und dann kommt eine ganz neue, andere Literatur. Vielleicht diese Leute, die heute kämpfen, die heute in der Armee sind, vielleicht müssen sie das schreiben.“
Musik hat viele Zungen und Stimmen. Zhadan, Jahrgang 1974, spricht für die junge Generation, um gegen den Krieg zu protestieren. Einen anderen Weg schlägt Walentin Silvestrow ein, 1937 in Kiew geboren. Als Komponist wurde er Ende der 60er Jahre aus dem Komponistenverband der UdSSR ausgeschlossen und erhielt Auftrittsverbot. Längst ist Silvestrow auf das musikalische Podium zurückgekehrt. Dort, wo Schriftsteller auftreten, um ihr Engagement vor Publikum mitzuteilen, da ist auch Silvestrow zur Stelle, wie zum Beispiel mit einem Konzert in der Philharmonie Czernowitz im September 2015. Er vertont alte ukrainische und russische Elegien für Piano und Sopran, als Ausdruck eines gemeinsamen kulturellen Erbes. Sein Credo: Die Ukraine ist zwar ein zweisprachiges Land, aber Russisch und Ukrainisch verkörpern eine Kultur.
Juri Andruchowytsch, der in seinen Schriften und in Gesprächen auf Podien – und er ist auf vielen Podien präsent, in der Ukraine wie in Deutschland – ironisch und maliziös die Zeitläufte charakterisiert, hebt stets hervor, dass wir in parallelen Welten leben. Wir leben im Krieg, und wir leben im Frieden – eine schizophrene Situation, wie man in der Ukraine immer wieder erfährt. Was heute klar zu sein scheint, ist morgen schon fragwürdig. Das Land ist im Umbruch, und wie es enden wird, das weiß keiner. Auch die Frage: Im Land bleiben oder ausreisen? quält die Menschen. Andrej Kurkow, 1961 in St. Petersburg geboren und heute in Kiew lebend, hat auf Russisch ein „Ukrainisches Tagebuch“ verfasst, „Aufzeichnungen aus dem Herzen des Protests“:
„Ich lebe mit meiner Familie im Zentrum von Kiew, 500 Meter vom Maidan entfernt. Vom Balkon unserer Wohnung aus sahen wir den Rauch der brennenden Barrikaden, hörten die Explosionen der Granaten und die Schüsse. All diese Zeit ging das Leben weiter, blieb kein einziges Mal stehen. Ich weiß nicht, wie das alles enden wird. Ich kann nur auf das Beste hoffen. Ich reise nicht aus. Verstecke mich nicht vor der Realität. Ich lebe jeden Tag darin.“
Kiew. Ein neuer Ton in der Prosa
Die literarische Szene der Ukraine ist reich, bunt, vielfältig, quer durch alle Generationen. Kateryna Babkina wurde 1985 in Iwanow-Frankiwsk geboren, einer westukrainischen Stadt, die genau auf der Hälfte der Strecke zwischen Lemberg und Czernowitz liegt. Heute lebt sie in Kiew. Vor einigen Jahren hatte sie Publikationsverbot, weil sie allzu kess gegen die neureichen Oligarchen polemisiert hatte. Ihre frische, lebendige Art, die Wirklichkeit in Augenschein zu nehmen, hat einen neuen Ton in die Gegenwartsprosa gebracht. Krieg gibt es für Kateryna Babkina, die ich in Czernowitz getroffen habe, auf großen und auf kleinen Schlachtfeldern, zum Beispiel bei der Hausmeisterin Walentyna. Sie gehört zur alten Welt der sowjetischen Aufpasserinnen, ist ein zurückgebliebenes Faktotum, kann sich aber wie eine Hexe in die Lüfte schwingen, um sich allem zu entziehen:
„Walentyna, die Hausmeisterin, ein wandelndes rothaariges Elend.
Gichtgeplagt, klapperdürr, ein Gesicht zum Fürchten.
Am Eigentum aller würde sie sich vergreifen, heißt es,
und sie hängt an der Flasche,
könnte das Hexen und Zaubern nicht lassen.
Sie ist Herrin über den Müllschlucker und Hüterin der Garagen,
nährt im Hausflur Pilze und üble Gerüche.
Wer weiß, ob sie mit jemandem gelebt hat,
aber wenn die Nacht besonders finster ist,
hört man sie heulen und jaulen mit tausend Stimmen.
Die Kinder verhöhnen sie – Fleckgesicht, Stumpfnase,
Dreckschwein, Eigenbrötlerin – eifrig aber hütet sie
Im Keller ihre Schätze – Besen, Stangen und Schaufeln,
die sie bei Bedarf kostenlos an die Bewohner verleiht,
wenn sie morgens bei ihr an der acht, ihrer Einraumwohnung, klopfen.
Und nur wenn in der Dämmerung heller Regen fällt
Und außer Autos, Bäumen und Krähen niemand im Hof ist,
die feuchte Erde dampft und das Himmelswasser läutet –
kommt Walentyna in den Hof und bleibt lange stehen.
Irgendwann hebt sie ab, die knotigen Arme ausgebreitet.
Jagt über die Stadt, über fremde Höfe,
wo sie nie gewesen ist, wo sie nie gefegt hat.
In diesen Momenten wäre jeder gerne sie,
wir haben es alle versucht, aber keinem gelingt es.“
Viele Texte sind noch nicht aus dem Ukrainischen ins Deutsche übersetzt. Vor allem die Lyrik junger, noch unbekannter Poetinnen und Poeten, die ich in Czernowitz einen ganzen Abend lang erleben konnte, als sie ihre Gedichte vortrugen, darunter Tomasch Dejak, Jahrgang 1984, der schon einige ukrainische Literaturpreise erhalten hat.
Faszinierend ist die Offenheit und Experimentierfreude der Schriftstellerinnen und Schriftsteller in der Ukraine und dies, obwohl Ukraine ‚Grenzland‘ heißt, das vergessene Land an der Peripherie. Gerade gibt es eine intensive Debatte darüber, welche Bedeutung das haben könnte. Jurko Prochasko, Übersetzer, Essayist, Psychoanalytiker, in Lemberg lebend und das wandelnde historische Gedächtnis dieser Stadt, hat seine eigene Theorie und benutzt den Begriff von den unauratischen Kulturen. Der Westen übe unangefochten die kulturelle Hoheit in Europa aus, während der Osten, vor allem Lemberg, in der Vergangenheit zwar ein literarischer Topos gewesen, heute aber verdrängt und vergessen sei:
„Ich nenne unauratisch diejenigen Kulturen, denen keine Aura vorauseilt, mit denen man nicht weiß, was man anfangen sollte, die nicht anziehend sind, die nicht erotisch sind, wo man nicht unbedingt hinfährt, einfach so. Und noch schlimmer, wo man nicht hinfährt und wo man sich nicht damit beschäftigt aus Interesse. Und damit meine ich überhaupt nicht nur ein kulturelles Interesse, sondern auch politisches Interesse, geschichtliches Interesse. Es gibt eine ganze Reihe von solchen Kulturen, auch in Europa und weltweit noch viel mehr, Aber wenn man in Europa bleibt, dann sehen wir, dass Europa in dieser mental mapping nicht nur sehr archaische Einteilungen immer weiter zelebriert in West und Ost, diese Tendenz verstärkt sich auch durch die Globalisierung und durch die Mobilität der heutigen Welt, dass manche Kulturen, eben auratische Kulturen immer mehr und mehr auftraten als Hegemon und andere Kulturen immer stärker in den Hintergrund geraten, bis sie dann gar von dieser mental map verschwinden.“
Czernowitz. Ein Sehnsuchtsort
Jurko Prochasko lebt in der Westukraine. Gerade diese Gebiete, Galizien und die Bukowina, sind durch ihre deutsch-jüdischen literarischen Traditionen hoch besetzt, von Joseph Roth über Gregor von Rezzori bis zu Paul Celan und Rose Ausländer, um nur einige der bekanntesten zu nennen. Vor hundert Jahren waren das auratische Orte, umgeben von einem literarischen Mythos. Ilma Rakusa, die Essayistin, Übersetzerin und Spezialistin für den europäischen Osten, empfindet Czernowitz, den Geburtsort von Paul Celan, damals noch Paul Antschel, weiterhin als einen magischen Anziehungspunkt:
„Es ist ein Sehnsuchtsort, weil das eine Stadt war, die zur Monarchie gehörte, und selbst danach, nach dem Zerfall der Monarchie, noch ein wirklich intensives Leben geführt hat, auch kulturell mit vielen deutschen Zeitungen, internationalen Zeitungen. Auch noch zu Celans Zeiten war das eine faszinierend multiethnische, multikulturelle Stadt und relativ klein, wenn man es mit Krakau, Zagreb, Triest, Ljubljana, Budapest und Wien vergleicht. In dieser Verdichtung, fand ich dies Czernowitz immer exemplarisch. Das gibt es am Rand der Monarchie. Diese Grenzlage hat natürlich auch für mich immer etwas Faszinierendes. Es war der letzte Zipfel dieser Monarchie, gut, dann ging es anders weiter, aber immer noch haftete ihm so ein Glanz an, wozu natürlich gerade diese deutsch-jüdische Bevölkerung gehörte.“
Ein kleines Land am Rand ist die Ukraine nicht; flächenmäßig ist sie das zweitgrößte Land in Europa, allerdings, und da hat Jurko Prochasko Recht, ist die Ausstrahlung auf das übrige Europa zurückhaltend. Erst mit der Orangenen Revolution, vor allem aber durch den Euromaidan, setzte sich die Ukraine auf die mental map, die mentale Landkarte Europas, wurde wahrgenommen im gesamteuropäischen Bewusstsein. So begann bereits in den neunziger Jahren eine rege Übersetzertätigkeit ukrainischer Literatur vor allem ins Deutsche. Juri Durkat aus Lemberg stammend, der zum Beispiel die Romane von Serhij Zhadan ins Deutsche übersetzt hat, schätzt, dass inzwischen pro Jahr fünf bis sechs ukrainische Titel ins Deutsche übertragen werden:
„Deutschland ist tatsächlich das westlichste Land, wo ukrainische Literatur übersetzt wird, Polen ist in einer Ausnahmesituation, aber der deutschsprachige Markt ist insgesamt größer als der polnischsprachige. Ich glaube, es ist auch kein Zufall, dass so viele ukrainische Schriftsteller Deutsch sprechen. Es ist auch klar, dass die ukrainische Literatur in Deutschland heute und für die Zukunft zu einem Nischendasein verdammt ist, aber gleichzeitig ist es der wichtigste Markt für die ukrainischen Autoren. Das kann sein, dass in Galizien die deutsche Sprache eine andere Geschichte und einen anderen Stellenwert hat als in anderen Regionen; wobei Serhij Zhadan aus Charkiw stammt und auch Germanistik studiert hat. Aber in Galizien war die deutsche Sprache lange Zeit in Gebrauch, das war die Amtssprache, und interessanterweise hat es auch in der Sowjetzeit nicht dazu geführt, dass Deutsch hier verschwunden ist. Man hatte auch Deutsch in den Schulen. Es war zumindest im Unterbewusstsein hier präsent, und ich glaube, dieses kollektive Unterbewusstsein spüren auch die Schriftsteller.“
In Czernowitz, dem zweiten Schwerpunkt meiner Reise in die Westukraine, nach dem galizischen Lemberg nun die Bukowina, arbeitet der Literaturprofessor Peter Rychlo seit vielen Jahren an Editionen deutschsprachiger Lyrik:
„Ich habe mich mit der deutschsprachigen Literatur aus der Bukowina seit langem beschäftigt und habe viele Bücher dieser Autoren ins Ukrainische übersetzt. Das war so ein Atlantis, das zu entdecken war. Als es sich im Bewusstsein der Bürger der Stadt durchgesetzt hat, da haben sie zum ersten Mal verstanden, dass hier eine Kulturschicht anwesend war, von der sie früher keine Ahnung hatten, weil in der sowjetischen Zeit war das einfach unmöglich. Man hatte kein Interesse, diese Autoren zu popularisieren. Erst nach der Wende wurde das möglich. All diese Dichter kamen aus dem österreichischen Kulturerbe. Diese poetische Schule, die bereits im 19.Jahrhundert mit Karl Emil Franzos einen ihrer ersten Vertreter hatte, dazu haben auch manche ukrainische Schriftsteller beigetragen, die in beiden Sprachen geschrieben haben wie Jurij Fedkowytsch, dessen Namen die Czernowitzer Universität trägt oder Olga Kobylanska, die ukrainische Klassikerin.“
Peter Rychlo ist Leiter des vor einem Jahr gegründeten Paul Celan Literaturzentrums, das sich zu einer prominenten literarischen Begegnungsstätte mitten in der historischen Altstadt von Czernowitz herausgebildet hat:
„Die deutsche Dichtung der Bukowina war vor allem lyrische Dichtung. Ich habe mir gedacht, wenn ich hier sitze in Czernowitz, und es gab so viel poetische Substanz in deutscher Sprache, dann muß man das meinen Landsleuten zugänglich machen. Ich begann, diese Autoren zu übersetzen. Und heute gibt es schon alle wichtigen Autoren auf Ukrainisch, wie Paul Celan oder Rose Ausländer. Irgendwie war das in der Luft, dass wir dieses gestohlene, verborgene Erbe wieder aktuell machen wollen, weil es gehört als Bestandteil zur Bukowiner Kultur, das wurde ausgespart, es wurde verboten früher. Ich mache so ein bisschen eine archäologische Arbeit. Ich will dieses Erbe wieder lebendig machen, weil ich finde, dass diese Dichter das verdient haben. Es wurde ihnen eine große geschichtliche Ungerechtigkeit angetan, sie haben viele Leiden erlitten. Das will ich wieder gerecht machen.“
Lemberg. Die Brücke aus Papier
Eine Literatur mit so kosmopolitischen und vielsprachigen Traditionen, denn es gab auch polnische, rumänische, armenische, jiddische Autoren, trägt in sich die Neugier auf andere Kulturen. So ist es wohl kein Zufall, dass trotz der bedrohlichen Kriegssituation im vergangenen Herbst gleich drei literarische Begegnungen die Horizonte öffneten. Im August fand in Lemberg das erste deutsch-ukrainische Schriftstellertreffen statt. Sechs Autorinnen und Autoren aus der Ukraine und sechs aus Deutschland tauschten ihre Erfahrungen aus und lasen Texte. Kuratorin war Verena Nolte. Sie leitet die Münchner Gesellschaft „Kulturallmende“, einen Verein zur Förderung von Literatur und anderer kultureller Projekte. Das Treffen in Lemberg stellte sie unter das Motto „Eine Brücke aus Papier“:
„Der Titel stammt von Manès Sperber, Friedenspreisträger, wir haben ihn viel gelesen – „Eine Träne im Ozean“ – hat seine Kindheitserinnerungen geschrieben über Sabolotow, in der Westukraine heute gelegen, Galizien, Die Brücke aus Papier ist über den Pruth imaginiert, das ist der Fluss in Sabolotow. Es ist eine chassidische Legende, er ist in einem Stetl groß geworden, und dort hieß es, der Messias kommt über die Brücke aus Papier. Und die Eisenbrücke, die in Wirklichkeit über den Pruth führt, die inzwischen zerstört ist, die Brücke aus Papier ist so zart, aus Zigarettenpapier, das ist die Brücke, die in die Ewigkeit, in den Himmel führt, auf der die gute Botschaft kommt. Ich fand dass diese Metapher wunderbar passt für die Literatur.“
Im September versammelten sich in Czernowitz 35 Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus neun Ländern zum sechsten Mal zum Internationalen Meridian-Lyrikfestival. Organisatorin ist Evgenija Lopata, Jahrgang 1994, die im Frühjahr zur „Jungen Europäerin des Jahres 2015“ gekürt wurde. Dieses Festival stand unter einem besonderen Motto:
„Das Motto lautet ,Die Musen schweigen nicht‘. Dieses Motto hat einer der Väter unseres Festivals, der Dichter und Journalist Igor Pomeranzew ausgedacht. Man sagt, wenn ein Krieg ist, und die Bomben sehr laut sind, dann schweigen die Musen. Bei uns ist es ganz umgekehrt, die Musen schweigen nicht. Es sollte bedeuten, dass in der Zeit des Krieges, die Kultur einen großen Einstieg erleben soll, das Literaturleben im Land sich entwickeln soll – auf keinen Fall aufhören, auf keinen Fall schweigen, auf keinen Fall sich zurückhalten soll, weil es eine Niederlage für uns bedeuten würde.“
Im Oktober fand an einem weiteren Ort in der Ukraine, in Odessa, zum ersten Mal ein Internationales Literaturfestival statt. Wie Lemberg und Czernowitz, so ist auch Odessa ein magischer, ein mythischer Ort mit eigener Tradition. Hier lebten Alexander Puschkin, Adam Mickiewicz, Isaak Babel. Die Stadt am Schwarzen Meer ist reich an Legenden und strahlt eine multikulturelle Atmosphäre aus. Diesmal luden ein der ukrainische Schriftsteller Andrej Kurkow, der Schweizer Kulturmanager Hans Ruprecht und der Berliner Festivalorganisator Ulrich Schreiber. Zwei Dutzend Autorinnen und Autoren lasen und diskutierten. Es ist phänomenal, wie lebendig und einfallsreich sich das literarische Leben in der Ukraine behauptet. Die politische Stimmung ist wenig ermutigend, die Zukunft mag keiner mit Gewissheit voraussagen, und trotz alledem, die Vitalität, mit der sich diese Literatur jenseits aller Bedrohung präsentiert, beeindruckt. Evgenija Lopata bekannte bei der Ehrung zur ‚Jungen Europäerin des Jahres 2015′ ihr unverbrüchliches Credo:
„Einige nehmen Waffen in die Hände und fahren nach Pervomask oder Lugansk, um unser Land für immer vor Russland zu schützen. Ich nehme Bücher in die Hand, und diese Waffe, glauben Sie mir, ist nicht schwächer.“
Nicht schwächer ist auch, wenn Jurij Andruchowytsch mit der polnischen Band Karbido, mit der er seit zehn Jahren durch die Ukraine und andere europäische Länder zieht, Lyrik und Musik zu einem rebellischen Protest und Aufschrei artikuliert oder seine Worte in poetische Melancholie kleidet.
(Musik Karbido/Andruchowytsch)
Von Lerke von Saalfeld
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