Skizzen und Reflexionen zu einem Seminarprojekt und einer außergewöhnlichen Studienreise mit Jurij Andruchovyč
In einer free style Reportage berichten Studierende, die gemeinsam mit Jurij Andruchovyč das Lyrikfestival Meridian Czernowitz in der Ukraine besucht haben, von ihren Eindrücken und Begegnungen mit einem Land, das nicht wenige bis dahin nur aus den Nachrichten kannten. Jurij Andruchovyč, der im Sommer 2014 als Siegfried-Unseld-Professor an der Humboldt-Universität zu Gast war, hat in Berlin mit seinem Auftrag, im Seminar eigene DichterInnen zu „erfinden“, Eindruck hinterlassen und ukrainische Literatur und Kultur lebendig erfahrbar gemacht. Studierende blicken in persönlichen, essayistischen Schilderungen und in einem Interview zurück…
von Maria Beketova, Ekaterina Feldmann, Kai-Oliver Gutacker, Iwi Hagenau und Lina Zalitok
I. Die Liga der außergewöhnlichen Versemacher – ein dichterisches
Seminarprojekt mit Jurij Andruchovyč
Institut für Slawistik, Dorotheenstraße 65, Berlin, Seminarraum 5.38, 10-12 Uhr Donnerstag vormittags.
Ich weiß noch, dass ich zur ersten Sitzung ein wenig zu spät kam, mich rasch an den Mitstudierenden vorbeidrängte und mir als einziger freier Sitzplatz nur der Stuhl direkt vor dem Dozententisch geblieben war. Dort, wo eigentlich niemand sitzen möchte, weil man sich ständig beobachtet fühlt. Ich sah mich im Raum um, wenige der Kommilitoninnen und Kommilitonen waren mir bekannt; und alles, was ich von Jurij Andruchovyč wusste, war, dass er einer der bedeutendsten zeitgenössischen Schriftsteller der Ukraine ist. Mir war der Name früher völlig unbekannt gewesen, und im Nachhinein habe ich erfahren, dass es den meisten aus dem Kurs nicht anders ging. Auch unter dem Kursthema konnte ich mir nur wenig Konkretes vorstellen. Also hörte ich unserem neuen Seminarleiter zu. Nun, das Ziel sei, eine Mystifikation zu erarbeiten. Einen Dichter, egal aus welcher Zeit, als verschollenen Schriftsteller zu „entdecken“, seine Biographie aufzuschreiben und zu erklären, warum er erstens vergessen und zweitens wiedergefunden wurde. Die Sprache dabei sei egal, je mehr Sprachen es später geben würde, desto besser.
Einen zweiten Shakespeare zu erfinden, eine unvergessene Ikone der Literaturgeschichte – das ging also nicht. Aber dennoch sollte unser Poet, dem wir unsere Stimme leihen würden, kein drittklassiger Künstler und unsere Aufgabe keine bloße Schreibaufgabe sein, mit der man sich einen Teilnahmeschein erkauft. Das war die erste Schwierigkeit an dem Projekt. Die zweite war, dass man auch Teile des Werks nachdichten sollte. Wer einen Autor aus der Barockzeit mystifizieren wollte, der musste also auch in den sauren Apfel beißen und schon mal brav das Sonetteschreiben üben.
In der zweiten Woche war der Seminarraum erheblich leerer. Und unter denen, die geblieben waren, herrschte Unsicherheit. Schaffen wir das? Ist das nicht eine Nummer zu groß für uns? – Für viele war es überhaupt die erste Erfahrung im literarischen Schreiben. Solche Kurse sind an der Universität sonst nicht vorgesehen. Jurij Andruchovyč diskutierte mit uns über berühmte Mystifikationen in der Geschichte. Nebenbei sprach er über das Projekt, erwähnte da ein gewisses Literaturfestival in der Ukraine. „Bis in einer Woche bitte die grobe Idee der Dichterbiographie auf einer Seite vorstellen und dann im Kurs vortragen!“
Jetzt wurde es ernst.
Ich habe mich nie so richtig mit den anderen darüber unterhalten, wie sie zu ihren Dichtern gefunden haben. Bei mir ging es so, dass ich später in dieser Woche einmal im Universitätscafé saß, nachdachte, und dabei von der Frau hinterm Tresen mit Unmengen von Kaffee versorgt wurde (an dieser Stelle: Danke noch einmal, liebe Scholle, ohne Dich hätte es meinen Dichter nie gegeben). Irgendwann kam mir die zündende Idee: Einer meiner anderen Professoren hatte doch neulich im Seminar gesagt, es gäbe keinen deutschsprachigen Poeten des Surrealismus. Also, warum nicht einfach einen erfinden? Da ging es aber schon mit den Schwierigkeiten los … Welchen Namen sollte er haben? Ich entschloss mich, meinen Namen bei jemandem zu klauen und dann ein bisschen zu verändern. Bei wem, sage ich nicht, er oder sie hat bis heute keine Ahnung davon. Dann die Eckdaten der Biographie. Wo sollte er herkommen? Am besten da, wo ich auch geboren wurde. Nur etwas mehr als hundert Jahre früher. Aus der Mittelhessischen Wetterau, wo einem das Fortschreiten der Jahrhunderte nicht unbedingt auffallen muss. Wo hat er gewirkt? Natürlich im Berlin der 1920er Jahre. Nach und nach kamen die kleineren Details: Eltern, Studium, Liebe, Beruf,… Am Ende musste ich ihn nur noch verschwinden lassen. Ich dachte mir ein Schiff in die Südsee aus, und einen blinden Passagier. Ohne Rückfahrt. Das, was wir uns alle einmal vorstellen, wenn wir deprimiert sind. Er hat es durchgezogen, damals, als die Nazis kamen.
Nach und nach präsentierten wir unsere Dichter, und im Laufe der Wochen wurden die Biographien immer ausführlicher und mit jedem neuen Puzzle-Teil wuchs auch unser Vertrauen in das, was wir da taten. Es begann, Spaß zu machen. Gerade das Dichten, der Versuch, etwas komplett Neues zu unternehmen, so zu schreiben, wie man sonst nicht schreibt. Jurij Andruchovyčch ermutigte uns ständig, lobte uns und gab konstruktive Kritik, wenn etwas nicht logisch schien oder wenn er sonst irgendwelche Probleme sah. Nach den Sitzungen begannen wir Studierende, miteinander zu reden, Ideen auszutauschen. Fast jeder gestand nach einem kleinen Zögern, dass er oder sie inzwischen ein Buch von Andruchovyč gekauft hatte – es aber lieber nicht an die große Glocke hängen wollte, um nicht als Streber abgestempelt zu werden. Nach einem zweiten, etwas längeren Zögern gestanden wir uns auch ein, dass das (auf Deutsch) ja ziemlich ungewöhnlich geschrieben ist und sich nicht so einfach lesen lässt. Trotzdem, nach einiger Zeit hatten alle zumindest ein Buch durch, die meisten waren letztlich überzeugt – und es war gut, unseren Kursleiter von dieser Seite kennenzulernen: über die Art, wie er schreibt und wie er in seinen eigenen Romanen Perversion und Zwölf Ringe selbst mit literarischen Mystifikationen umgeht.
Genauso ungewöhnlich und vielseitig wurden unsere Sprösslinge. Da gab es verspleente Adelige um die Jahrhundertwende mit Hang zur Bergarbeiter-Romantik, einen literarisch hochbegabten Affen, einen Renaissance-Dichter, der das Meer bereiste und dessen Überlieferungsgeschichte so komplex war, dass sie leicht ein ganzes Buch füllen konnte. Es gab die neue, nicht ganz anspielungsfreie barocke Schule des Mansfelder Neuplatonismus, dessen dichterische Umsetzung es leider nicht in die Jetztzeit geschafft hat, und Träger der höchsten kulturellen Auszeichnungen der Sowjetunion. Jan Wagner kam und stellte uns seinen Band Die Eulenhasser in den Hallenhäusern vor, der sich ebenfalls um mystifizierte Dichter dreht. Mir zumindest ging es so, dass das Projekt einen immer stärkeren Sog entwickelte. Mein Dichter forderte einen sehr großen Teil meiner Aufmerksamkeit ein, ich ging durch die Stadt und fragte mich unwillkürlich, was er wohl vor achtzig Jahren hier gesehen und bedichtet haben könnte. Die Schwarzweiß-Sendung auf dem History-Channel, zu der es sich sonst so gut einschlafen lässt, wurde auf einmal zur spannenden und wichtigen Inspirationsquelle, und als ich einmal meine Großeltern anrief, bat ich sie, ganz ausführlich von ihrer Kindheit zu erzählen.
Als das Semester zu Ende ging, dachten viele, das sei es jetzt auch mit unseren Dichtern. Gerade, als es so richtig losging. Dann kam auf einmal wieder das Festival ins Gespräch und die Idee, die Texte unserer Dichter in einem Sammelband zu veröffentlichen. Von da an ging alles ziemlich schnell; Gelder wurden bewilligt, Flüge gebucht. Für viele würde es das erste Mal in der Ukraine sein: ein Abenteuer, nicht nur in literarischer Hinsicht. Spätestens jetzt erkannte jeder, der zugesagt hatte, wie besonders dieses Projekt war, an dem wir teilnahmen, wie wenig universitär es war und wie wenig auf einmal Teilnahmescheine und Modulabschlussprüfungen bedeuteten. Spätestens jetzt wussten wir, dass es um Kunst ging und wir wirklich etwas Größeres auf die Beine gestellt hatten. Also machten wir uns auf den Weg, unsere Poeten im Gepäck, und erlebten eine unvergessliche Woche in Czernowitz, Ivano-Frankivsk und L’viv.
Mein Versemacher hatte das Glück, diese Woche in guter Gesellschaft zu verbringen: Da gab es Zane Civlāme, eine einfühlsame, aber willensstarke junge Frau aus dem Baltikum, die sich mit den Berliner Auslandsämtern der Vergangenheit herumschlagen musste, und mit einem Ehemann, dem sie nie wirklich nahe war. (Meinen Dichter hat sie übrigens kennen gelernt, damals, in den glitzernden Nächten der Zwanziger). Dann war da Lena Staub, eine noch lebende Dichterin, die von tödlichen Fahrradunfällen, grünen Rücklichtern an den Autos, Poesie, Permakultur und Wikipedia schrieb; Aleška Bystřičanová, die ein längeres, aber ungeheuer temporeiches und kraftvolles tschechischsprachiges Gedicht um die beiden Begriffe „minimal“ und „maximal“ geschrieben hat, das ich bis heute nicht hundertprozentig verstanden habe – aber das durch seinen Klang und seine Geschwindigkeit auch für diejenigen eine Dynamik vermittelt, die kein Tschechisch sprechen. Ena Krot und Leonid Garz, ukrainische Autoren, die sich beide nur in ihren Nebenstunden der Lyrik widmen konnten und deren Werk uns aus dem umfangreichen Nachlass überliefert ist.
Und dann gab es noch den armen Ilya Nikiferoff – den einzigen, der auf dem Festival stumm bleiben musste. Sein ganzes Werk besteht nämlich aus Figurengedichten, also Lesetexten, die man nicht vortragen kann. Aber ich bin sicher, seine Zeit wird kommen, spätestens, wenn wir unser nächstes Ziel in Angriff nehmen: die Veröffentlichung unseres Sammelbands, hoffentlich auch mit vielen Beiträgen von unseren Dichterfreunden, die nicht in die Ukraine mitkommen konnten.
von Kai-Oliver Gutacker (Student der „Europäischen Literaturen“ an der HU Berlin, Kai-Oliver war zum ersten Mal in der Ukraine)
II. Telegramm und Bildserie zum Reiseverlauf
4. September 2014: Flugreise Berlin – L’viv; Zugreise L’viv – Czernowitz. Auf halber Strecke, in Ivano-Frankivsk, stieg Jurij Andruchovyč zu.
5. bis zum 8. September: Czernowitz. Am ersten Tag wurde das V. Internationale Lyrikfestival Meridian Czernowitz in der Nationalen Jurij-Fedkovyč-Universität feierlich eröffnet. Um 1 Uhr nachts stand unser Auftritt im Palast der Kultur, einst das Jüdische Nationalhaus, auf dem Programm. Am 6. September: Führung mit Professor Petro Rychlo durch die jüdische Geschichte der Stadt Czernowitz.
8. bis 9. September: Weiterreise mit dem wandernden Festival nach Ivano-Frankivsk. Noch in der gleichen Nacht fand unser zweiter Auftritt in der Bastion, zwischen den Resten der ehemaligen Festungsmauern von Ivano-Frankivsk, statt. Am darauffolgenden Morgen: lyrische Stadtführung mit der Schriftstellerin Halyna Petrosanyak, auf der uns Prof. Andreas Kappeler, der sich ganz zufällig auch in Ivano-Frankivsk aufhält, begleitet.
9. bis 11. September: letzte Station der Reise, L’viv. Es wird ein Universitätskooperationsvertrag zwischen der Nationalen Ivan-Franko-Universität L’viv und der Humboldt-Universität zu Berlin unterzeichnet. Die Historikerin Olha Sydor führt uns durch die Stadt und insbesondere die ehemaligen jüdischen Viertel, die außerhalb der engsten Innenstadt lagen.