Die Wandtafel im Leichenhaus des jüdischen Friedhofs von Czernowitz hat die Besatzung durch die Nationalsozialisten überstanden, den Stalinismus, die Sowjetunion, und deren Zerfall: Doch wenige Tage bevor in diesem Jahr das Poesie-Festival „Meridian“ in der ukrainischen Stadt begann, demolierten Unbekannte das historische Andenken aus dem Jahr 1905.
Mit gequältem Blick mustert Swjatoslaw Pomeranzew den Schaden. Unten, wo die „Cultusräte“ der „hiesigen israelitischen Cultusgemeinde“ aufgezählt sind, beginnen die Risse, werden immer intensiver, und dann fehlt ein kopfgroßes Stück von dem grauen Marmor, und dahinter kommt roter Ziegel zum Vorschein.
„Es ist bitter, aber wir lassen uns dadurch nicht ermutigen. Eher anspornen“, sagt Pomeranzew. Der bullige Mann mit dem Kurzhaarschnitt hat hier in der tiefen ukrainischen Provinz etwas auf die Beine gestellt, was ihm niemand zugetraut hat: Jeden Herbst lässt der 42-Jährige in Czernowitz den alten literarischen Geist der Stadt wiederaufleben – und haucht ihm neues Leben ein.
Pomeranzews Poesie-Festival „Meridian“ knüpft an die glorreichen Traditionen der 240.000-Einwohner-Stadt an, die von 1775 bis 1918 als Hauptstadt der Bukowina Teil von Österreich-Ungarn war: Ein Schmelztiegel der Nationen, der große Poeten hervorbrachte – wie Paul Celan, Rose Ausländer und Selma Meerbaum-Eisinger.
Seit 2010 treffen sich jedes Jahr Poeten aus ganz Europa in Czernowitz und verwandeln ein Wochenende lang die unterschiedlichsten Orte in der Stadt in Bühnen der Poesie: Im Postamt werden ebenso Gedichte gelesen wie auf dem jüdischen Friedhof, in der Leichenhalle, in der Herz-Jesu-Kirche, in der Universität, im Sitzungssaal des Stadtrats, auf dem Theaterplatz.
Und wie so oft in der wechselhaften Geschichte von Czernowitz, das sechs Namen hat – einen Ukrainischen, einen Russischen, einen Polnischen, einen Rumänischen, einen Jiddischen und einen Deutschen – liegen Schönheit und Schrecken, Freude und Angst zuweilen nahe beieinander.
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