Das zum vierten Mal in Folge in Czernowitz veranstaltete Lyrikfestival greift eine Metapher auf, die von Paul Celan kommt: Der Meridian. Der Meridian schwebt beglückend, in lateinischer Schrift und an Celans großes poetologisches Manifest mahnend über dem Festival. Mit dem aus der Geographie entlehnten Begriff hat Celan, Sohn dieser einst rumänischen Provinzstadt, vor über einem halben Jahrhundert seine Büchner-Preis-Rede überschrieben. Der Büchnerpreis, uns und den ukrainischen Freunden der Literatur noch einmal ins Gedächtnis gerufen, gilt als bedeutendste Literaturauszeichnung im deutschen Sprachraum. Celan spielt mit dem Motiv des Meridian – eine gedachte, die Erde von Pol zu Pol umspannende Linie – auf das Verbindende an, auf das zur Begegnung Führende, das er, wie er sagt, mit unruhigem Finger auf der Suche nach dem Ort seiner eigenen Herkunft auf einer Kinder-Landkarte findet. – Das Verbindende als Synonym für das Geheimnis der Begegnung, Gleichnis für das Gedicht, das Gedicht, das einsam ist, einsam und unterwegs zu einem Gegenüber, zu einem ansprechbaren Du. Auf der Suche findet er etwas Immaterielles, aber Irdisches, Terrestrisches, etwas Kreisförmiges, über die beiden Pole in sich selbst Zurückkehrendes und dabei – heitererweise – sogar die Tropen Durchkreuzendes.
Der Literatur, der Poesie, dem Gedicht, der Sprache ist etwas Universelles mitgegeben, das sich irdischen Grenzen verweigert, eingehegten weltlichen Räumen entzieht. Etwas Freies, frei Schwebendes, allerdings auch etwas wie eine – diskreditierend, weil Sprache sein kann, aber nicht möchte – gutgedeckte lyrische Koiné. Diskreditierend, weil wir vielleicht zu gern und zu schnell den Blick abwenden vom Bild des uns mitgegebenen Sprachschicksals, von der Sprache – nach einem Wort Celans – als dem schicksalhaft Einmaligen. Sprache ist in ihrem sterblichen Gewand ein Makel und kein harmloses Muttermal.
Wir haben allzulange das Hintergrundrauschen des Ukrainischen überhört. Es hat in dieser Gegend und zu unserer Zeit zu sich selbst gefunden, ist zurückgekehrt, und zwar bis in die Poesie hinein. In unserer Wahrnehmung war es in dieser Provinz, maßgeblich in dieser Stadt, zwei Jahrhunderte hindurch oder wer weiß wie lange, vernachlässigt, verdrängt, in die Küchen verbannt, aufs flache Land, gleichsam unter Kuratel gestellt, in den Schatten sprachlicher Hegemonie eines halben Dutzends anderer, dominierender Sprachen.
Zurück zum Bild des die Tropen durchkreuzenden Meridian. Die Tropen, das war die territoriale Mehrsprachigkeit der Bukowina vor dem Zweiten Weltkrieg, das war das Jiddische, das Deutsche, das Rumänische, immerhin Amts- und Verkehrssprache der Zwischenkriegszeit, das war am Ende das Russische. Die erste und einzige Sprachkonferenz des Jiddischen fand einige Jahre vor dem Ersten Weltkrieg in Czernowitz statt, für Israel Chalfen, Celan-Biograph der ersten Stunde, seinerzeit eine jüdische Stadt deutscher Sprache. Eine Sprachkonferenz fürs Jiddische? Ein tragischer Scherz der Geschichte, eine Heiterkeit hervorrufende tropische Kuriosität.
Mit dem Festival sucht die Stadt ihren Platz im Konzert der europäischen Literaturen, möchte die zeitgenössische Literaturszene dieses Landes ins rechte Licht rücken und sieht sich zugleich mit der Schwierigkeit konfrontiert, im gesprochenen Idiom über die Landesgrenzen hinweg wahrgenommen zu werden, sich letztlich auf eigenem Terrain behaupten zu müssen. Das Festival ist eine ukrainische Veranstaltung im Tenor überwiegend ukrainischer Autoren, Lyriker, Übersetzer, Essayisten, Künstler. Und möchte doch über den Tellerrand der eigenen Sprachbefindlichkeit in die Welt blicken. Das geht besser, wenn man sich ein wenig an die imponierende, in eine ganz andere Sprachfamilie verortete Literaturtradition dieser Stadt anlehnt. Aber das hat seinen Preis. Das Festival leidet am Kraftakt der permanenten Übersetzungsarbeit. Übersetzt wird vom Ukrainischen, Russischen ins Deutsche und Englische, vom Deutschen und Polnischen ins Ukrainische und zurück, eine Leistung, eine Arbeit, unter der die Stille, die Sensibilität, das Innehalten und das Filigran der Lyrik leidet.
Die Veranstaltungsreihe, um an dieser Stelle den deutschsprachigen Beiträgen höhere Aufmerksamkeit zu schenken, reicht von den graziösen Einfällen Jan Wagners, den kafkaesken Bildern Y?ko Tawadas, den atemberaubenden Wortkaskaden Nora Gomringers (souverän von Peter Rychlo ins Ukrainische übersetzt) bis hinüber zum teatro caprile aus Wien, eine Truppe, die eine bezaubernde Jura-Soyfer-Revue hinlegt – und es entfaltet sich in den Poesiefilmen der Literaturwerkstatt Berlin, von denen Thomas Wohlfahrt uns einige überzeugende Arbeiten präsentiert. Unter ihnen finden sich solch verblüffende Eingebungen wie Gerhard Rühms Dialog über Österreich, ein Wiener Lautgedicht, der zwischen Wut und Verzweiflung flackernde Wortschwall Kosal Khievs in Why I Write, oder das stille Again and again, eine Produktion aus Myanmar, die sich poetisch, unaufdringlich, nicht verklärend und fern aller Betulichkeit dem Arbeitsalltag in einer burmesischen Glashütte annimmt.
Da finden sich plötzlich und gewiss ungerechtfertigt für den aus dem deutschen Sprachraum Angereisten die polnischen und ukrainischen Autorinnen und Autoren in den Schatten gestellt, auch der einzige Teilnehmer aus Israel, Amir Or. Sie alle müssen, um verstanden zu werden, häppchenweise, zerbröckelnd, stockend und in die Breite gespannt übersetzt werden.
Das ukrainische Literaturmagazin Prostory nimmt sich in der aktuellen Ausgabe der gegenwärtigen Kunst und Literatur der Schweiz an, man beglückt die Festivalteilnehmer mit einem Weinpoetischen Abend auf der Sommerterrasse des Club Sorbonne, ArtPole führt im ehemaligen Stadttheater Albert auf, ein umwerfend witziges, belesenes und gescheites Stück Prosa Jurij Andruchowytschs.
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Noch einmal Celan. „Erreichbar, nah und unverloren blieb inmitten der Verluste dies eine: die Sprache.“, so in der Bremer Rede von 1958. „Sie, die Sprache blieb unverloren, ja, trotz allem. Aber sie musste nun hindurchgehen durch ihre eigenen Antwortlosigkeiten, hindurchgehen durch furchtbares Verstummen, hindurchgehen durch die tausend Finsternisse totbringender Rede. Sie ging hindurch und gab keine Worte her für das, was geschah; aber sie ging durch dieses Geschehen. Ging hindurch und durfte wieder zutage treten, »angereichert« von all dem.“
Die Sprache, die Celan im Kopf hat, die er meint, von der er spricht, auf die er verweist, in der er Gedichte zu schreiben versucht, ist nicht ein mundgerecht gemachtes Esperanto, ist nicht die Sprache als Idee von ihrer geistigen Souveräntät und Unantastbarkeit, vielmehr ihre verletzliche, zeitlich-flüchtige Gestalt – in diesem Land, in dieser nach dem „Großen Vaterländischen Krieg“ der Geschichtslosigkeit anheimgefallenen ehemaligen Provinz der Habsburgermonarchie ist jene Sprache nicht wieder zutage getreten. Auch wenn es heute mit der Eigenständigkeit des Landes anders zugeht, ein frischer Wind weht, wenn dort wieder Menschen und Bücher leben, wovon wir uns überzeugt haben, jene Sprache ist fern, verloren und unerreichbar. Es scheint, als wüsste das Festival darum.
Drei bis zum Rand gefüllte Tage. So bringt man die Stadt zurück auf die Weltkarte der Literatur, der Poesie, der Lyrik. Zu danken haben wir den Autorinnen und Autoren, den Dichtern, den Künstlern und Übersetzern, nicht zuletzt aber dem unermüdlichen Fleiß, dem Engagement und der fabelhaften Improvisationsgabe des ukrainischen Organisationsteams, überwiegend junge Leute aus Czernowitz, die das Lyrikfestival zu einer äußerst gelungenen Veranstaltung werden ließen.