Während zweier Monate lebt der Berliner Lyriker Tom Schulz als Stipendiat in Czernowitz. Von seinen Gängen durch die Stadt, zu Paul Celans einstigem Wohnhaus und über den jüdischen Friedhof berichten seine Impressionen.
Als ich in der Bukowina ankam, war helle Nacht. Der Mann, der sich als mein Fahrer vorstellte, hiess Wolodyja, er meinte, ich solle ihn Wowa nennen. Wir gingen zum Auto, einem alten Sportwagen. Pflanzten uns in den Jaguar. Er lächelte vielsagend, als ich ihn auf die Marke ansprach. «Er ist schon älter und auch krank.» Wir lachten los. Dann fuhren wir die Hügel hinauf in die alte Stadt Czernowitz. Hielten an einem Platz im Zentrum. Ein bisschen wie Italien, dachte ich, wäre nicht überall die kyrillische Schrift an den Werbebannern. Jugendliche hockten auf Parkbänken. Tranken Cola aus Bechern. Die letzten Bars schlossen. Paare schlenderten Arm in Arm die Ausgehmeile entlang. Die Luft war mild und von Pollenstaub durchsetzt.
Frau Leutnant
Vor dem Wiener Café, geschrieben auf Ukrainisch, sassen ein paar Touristinnen, die Wein tranken. Alles war hell erleuchtet in der Gegenwart. Ich spazierte weiter, traf an einer unübersichtlichen Stelle zwei johlende Berufstrinker. Vor dem Theater standen an den Seiten eines schmalen Parks etwa hundert Jugendliche. Sie bildeten Gruppen, deren Sinn sich nicht sofort erschloss. Sie sprachen leise, kaum hörbar. Als wäre dies eine Art Konspiration. Wogegen würden sie sich verschwören und aus welchem Grund? Am nächsten Tag durchstreifte ich die Innenstadt. Noch immer sind die alten Habsburger Häuser berückend schön. Ihre Reliefs und Balkone, ihre Bögen und Fassaden. Am Nachmittag traf ich Olena. Sie unterrichtet Deutsch als Fremdsprache an der Universität. Sie ist gross und schlank, vielleicht Ende zwanzig. Braunes Haar, gestuft.
Als wir zum Bahnhof die Hügel hinunterliefen, fiel Sonnenlicht von vorn zwischen unsere Köpfe. Für einen Moment geblendet, sah ich kurz darauf ihr Gesicht von der Seite, das wie in einem Traum makellos erschien. Dann sagte sie etwas, das ich beim Hören sofort vergass. Auf der Strasse lagen lose Steine und Brocken, die hierhergeschleift wurden. Die alten Autobusse, rostig blau oder weiss, fuhren an uns vorbei. In der Bahnhofshalle kreiste ein riesiger Leuchter über unseren Köpfen. Wir stellten uns an einen Schalter. Als wir drankamen, redete Olena mit der Fahrkarten-Verkäuferin, die eine hellblaue Uniform mit Schulterstücken trug. Frau Leutnant, scherzte ich. Die blonde Frau tippte auf ihrem Taschenrechner herum, griff zum Hörer eines schwarzen Telefons mit Wählscheibe. Nach einer guten halben Stunde reichte mir Olena die Tickets. «Ich bin ein glücklicher Mensch in der Ukraine», sagte ich zu ihr. Sie lächelte. Wir spazierten zurück in die Altstadt. Bogen links ein, sahen eine Kirche. Dann kaufte ich mir mit ihrer Hilfe einen Stadtplan. «Alles auf Kyrillisch.» «Macht nichts!» Ich zeigte mit dem Finger in den aufgefalteten Plan, sie erzählte mir von einigen Plätzen, zu denen ich gehen sollte.
An das Ende der Kobyljanskastrasse, auf der sich das flanierende Leben abspielt. Biegt man in eine Nebenstrasse, dann in deren Verlängerung, findet sich auf der linken Seite ein gut erhaltenes Haus, hellblau, mit sandsteinfarbenen Ornamenten über der Eingangstür. Hier, an der Hausnummer fünf, hängt die Tafel zu Ehren des Dichters Paul Celan, der am 23. November 1920 in Czernowitz zur Welt kam. Wie es der Irrtum will, hängt die Gedenktafel an der falschen Stelle; über die Gründe indes kann nur spekuliert werden. Linker Hand, in jenem eher maroden Wohnhaus mit der Hausnummer drei, an dessen Aussenwänden der Putz abbröckelt, wuchs er tatsächlich auf. Durch das Gartentor, das an diesem sommerlich warmen Maitag offen steht, gelangt man in den Hof. Im ersten Stock soll er gewohnt haben. Eine Mansarde habe damals noch existiert. Mitten im Hof soll ein Kastanienbaum gestanden haben, der Kastanienbaum Celans, der damals noch Paul Anczel hiess.
Ich mache die Foto und laufe eine paar Meter weiter. Der Kastanienbaum wurde gefällt. Seine Bäume waren die Kastanie, die Pappel und der Maulbeerbaum. Glaubt man den Gedichten. Ich stehe wenige Meter vor der Grundstücksgrenze, sehe die Kronen zweier Pappeln. Celans Pappeln. Durch das Blätterdach fällt Licht. Die Blätter sind grün, wie auch anders. Im Eckfenster hängen Hemden. Eines dunkelrot, das andere blau. Wenn man sich die Mansarde dazudenkt, kann man ihn sich vorstellen, wie er in den Garten schaute oder im Schatten der Kastanie seinen Blick schweifen liess. Er sollte die Kastanie und die Pappeln nicht mehr wiedersehen.
Ich drehe mich um, gehe auf den Hintereingang des Hauses zu. Neben der Tür ein geöffnetes Fenster mit einer Voliere. Auf der Stange hockt ein Wellensittich. Regungslos, er lebt. Ich trete durch die Tür, nehme die Stufen. Stehe vor der Wohnungstür des jungen Paul, einer dunkelbraunen Holztür. Daneben verbeulte Briefkästen ohne Namen. Kafkas Grüsse an Celan: Von den Gespenstern, die geschriebene Küsse trinken, wie es in einem Brief Kafkas an Milena Jesenská heisst. Noch einmal fünfzehn Stufen hinab. Auf das Trottoir ergiesst sich grelles Mittagslicht. Ein Hund trottet auf der gegenüberliegenden Seite vorbei, er hat keine Nachricht im Maul. Wenige Menschen passieren die Stelle, wo ich jetzt etliche Minuten warte. Worauf, dass sich eines der Fenster öffnet?
Freitag ist Markttag wie jeden Tag. Nahe dem Türkischen Platz bildet sich eine Menschentraube, und am Strassenrand stehen Bäuerinnen. Sie haben die Früchte ihrer Feld- und Gartenarbeit auf dem Gehsteig ausgebreitet. Ein Paar Radieschen, weisse Rübchen. Zwei Plasticflaschen Milch, drei Tüten Weisskäse ist an manchen Tagen die einzige Habe dieser Verkäuferinnen, die im hohen Alter in der wirklichen Marktwirtschaft angekommen sind. Der eigentliche Basar besteht aus mehreren Hallen. In der Fleischhalle stehen lange Tische, auf denen Rippen, Schweinefüsse, Schwarten und Innereien angeboten werden. Das Rohe und das Geschlachtete, hier liegt es ungekühlt auf dem Tisch wie vor Jahrhunderten. In der Luft Geruch von gestocktem Blut und Fett. Ich gehe in die nächste Halle, in der es Würste und Speck, gefrorenen, getrockneten und geräucherten Fisch zu kaufen gibt, jede Menge Kuh- und Schafskäse. Ich probiere den Schafskäse, er schmeckt gut. Kaufe in der dritten Halle Tomaten, Zwiebeln und Knoblauch. Am Strassenhang scherzen die Bäuerinnen, die alle ein Kopftuch tragen, die lachen, so dass ihre Zahnlücken aufblinken wie in alten russischen Filmen. Deren Gesichter von der Sonne gegerbt sind wie Leder. In ihren Augen liegt eine Welt, die erloschen ist.
Gegenüber einem katholischen Gottesacker, der mit einer neuen Kapelle versehen wurde, weiss mit hellblauem Dachanstrich und goldener Kuppel, liegt der Alte Jüdische Friedhof. Schon von weitem sieht man die Umrisse der Synagoge, zuerst den Davidstern wie eine Kompassnadel. Die Mauern stehen roh, die Fenster eingeschlagen oder kaputt, die metallene Kuppel schwarz, abblätternder Film. Erst innen erblickt man das ganze Ausmass der Baufälligkeit; der Putz an den Wänden ist zum Teil komplett abgebröckelt, in den Seitenräumen sind die Dächer schutzlos. Etwas von maroder Schönheit, die ihre Würde behalten hat, vermittelt das Innenleben dieses Hauses. Licht dringt herein durch die Öffnungen unter der Kuppel in dieser Mittagsstunde, in der niemand hier ist, ausser mir. Wind und Zeit. Die Sonnenstunde. Die Gräber Uhren. Ablesbar die Zeit. Ein warmer Hauch.
Der Entwurf der Lebenden
An diesem Mittag sind es Sonnenuhren, die weder vor- noch nachgehen. Der Besucher, der die Schatten sucht, wird in Helligkeit getaucht. Niemand ist hier: ausser mir und den Uhren. Zwischen den Reihen sind Sträucher und Büsche wild emporgewachsen. Sie überwuchern schon die Wege. Die Uhren sind mit Blütenstaub bedeckt, auch mit Pappelschnee. Wenn jemand spräche, spräche er hier über der Stadt. Ich dringe durch das Grün tiefer in diesen Garten ein, der sich hinstreckt auf dem Hügel. Spräche jemand von Gott, spräche er über der Stadt. Niemand spricht. Wenn man genau hinhört, summen die Uhren. Ihre Rücken stehen aufrecht, zum Teil vom Wind in eine Schräge versetzt. An einer Wegscheide ändern sich Farbe und Symbole. Zu den Uhren gesellen sich Tafeln. Wenn man genau hinsieht, sind die Tafeln vor das Gesicht gehaltene Hände. Niemand sieht. Es gibt wenig Menschen, wie der Dichter sagte.
All das Grün in diesem Garten atmet, als würden neugeborene Augen in einer Wiege an einen Ort getragen werden, von dem niemand weiss. Spräche jemand vom Hügel über der Stadt, spräche er im Zorn? Schon wird der Garten zu einer Wiese, erreicht man sein vorläufiges Ende. Vom Grasrain blicke ich auf den Entwurf der Lebenden. Sehe die Türme und Schlote der Stadt. Spräche der Narr von seinem Hügel über der Stadt, spräche er dann von Gott? Niemand ist hierhergekommen. Einer vielleicht. Ein anderer. Spräche er von den Uhren, den Tafeln. Von der Sonnenstunde, wo alles still war. Bis auf das Summen, das Ticken. Vor dem Ausgang die Pumpe. Ich trete ans Wasser, wie immer fliesst es. Gehe die Strasse hinunter und sehe, sie fahren die Toten in ihren Acker aus Blattgold, und sehe wieder die Farben, das Kreuz, und wenn sie sprechen, höre ich Furcht und Vergessen.
Der Schriftsteller Tom Schulz lebt in Berlin und ist im Mai und Juni Stipendiat der Residenz Meridian in Czernowitz. 2012 erschien der Gedichtband «Innere Musik» im Berlin-Verlag.