Wie kann man im Krieg über Gedichte reden? Das Festival „Meridian“ in Czernowitz zeigt eine Ukraine, die sich ihrer mehrsprachigen Identität versichert.
Von Helmut Böttiger
Dass das „Meridian“-Lyrikfestival in Czernowitz in diesem Jahr stattfand, ist schon selbst eine Nachricht. „Für die ukrainischen Streitkräfte“ stand groß auf dem Programmplakat. Alles stand im Zeichen des Krieges. Jurko Prochasko, der bekannte Lemberger Intellektuelle, der an die galizische Tradition der Multikulturalität anknüpft, sagte: „Keinen Augenblick lang verlässt mich das Bewusstsein dieses Krieges und seiner erbarmungslosen Wirklichkeit“, und so war es bei allen Beteiligten. Alle Gedanken und Gefühle werden vom Krieg aufgesogen und durchdrungen, man kann sich als ukrainischer Schriftsteller auf nichts anderes mehr konzentrieren, die üblichen Arbeiten – literarische Essays, Übersetzungen, Gedichte – bleiben liegen.
Die meisten haben in der ersten Zeit nach der russischen Invasion nichts mehr geschrieben. Langsam aber wurden die neuen Erfahrungen zum Thema, und das war bei diesem Treffen deutlich zu spüren. Es beginnt etwas kategorial Neues: Irena Karpa sprach von ihrer „Lähmung“ und der Erkenntnis, sich jetzt auf den Krieg „einlassen“ zu müssen, Kateryna Kalytko nahm die militärische Bedrohung direkt in ihre Metaphern auf, in denen die Panzerketten das Körpergefühl förmlich zu durchdringen scheinen. Dabei war es sehr berührend, dass Iryna Tsilyk bei alldem davon sprach, gerade jetzt die Sehnsucht nach einem „guten Leben“ nicht zu vergessen. Ihr Mann Artem Tschech ist im Krieg und hatte gerade zwei Tage Fronturlaub. Als Jurko Prochasko sagte: „Er hat sehr traurige Augen“ war das einer der Momente, die man so schnell nicht mehr vergisst.
Auf der dreitägigen Veranstaltung drängten sich die Programmpunkte, und es fiel auf, wie jung das Publikum war. Czernowitz ist eine Universitätsstadt, die alte habsburgische Grenzregion ist bisher vom Krieg verschont geblieben, aber die Literatur sieht sich hineingezogen in die barbarische Aktualität. Sviatoslav Pomeranzew, der Gründer des Festivals, sprach über den militärischen Begriff des „Hinterlands“ als einer menschlichen und wirtschaftlichen Ressource für die Armee. Die Poesie aber sei ebenfalls „eine Ressource der Standhaftigkeit, der Lebensfreude und der Hoffnung.“
„Mit welchen Katastrophen setzen sich Ihre Helden auseinander?“
Man konnte das in Czernowitz auf vielfältige und zunächst auch irritierende Weise erleben. Der aus den Befreiungsbewegungen stammende Ausruf „Slawa Ukrajini“ am Ende der offiziellen Reden („Ruhm der Ukraine„) und die Antwort aus dem Publikum „Slawa Herojam“ („Ruhm den Helden“) gehörten dazu, und so militärisch befremdend sich das für westliche Zugereiste ausnehmen mag: Das ist mittlerweile ein Akt der Selbstverständigung, die Versicherung einer neuen ukrainischen Identität. Und diese versteht sich vor allem als ein Gegenentwurf zum russischen Imperialismus. Der „ukrainische Nationalismus“, das lernte man hier, ist ein Begriff, der vor allem von der russischen Propaganda lanciert wird und den man äußerst differenziert betrachten sollte.
Es gibt in der Ukraine zwar eindeutig nationalistische Strömungen, aber vorherrschend ist gerade im Kulturbereich etwas Anderes: eine Rückbesinnung auf die Tradition der Mehrsprachigkeit und des Zusammenlebens verschiedener Sprachgemeinschaften in demselben Raum. So wurden zu „Meridian“ in den letzten Jahren immer auch bewusst Autoren aus Israel eingeladen, als Anknüpfung an die jüdische Geschichte von Czernowitz, so auch in diesem Jahr. Und es ist, angesichts der antisemitischen Haltungen in der ukrainischen Vergangenheit, nicht zu unterschätzen, wie Czernowitz sich in offiziellen Broschüren selbst darstellt: als eine Stadt, die „immer tolerant und offenherzig zu allen Nationen und Konfessionen“ sein wollte. Man sollte das Bestreben der Ukraine, dem russischen Imperialismus inhaltlich etwas entgegenzusetzen, ernstnehmen. Wenn der deutsche Literaturhistoriker von einer Journalistin aus Kiew gefragt wird: „Mit welchen Katastrophen setzen sich Ihre Helden auseinander?“ – dann ist das, trotz aller Verwirrung, vor allem als ein Versuch der Annäherung zu begreifen, eines gegenseitigen Verständnisses. Aber natürlich merkt man an solchen Formulierungen auch, welche Hürden dabei zu überwinden sind.
Der Krieg hat etwas ausgelöst, das Putins Intentionen gänzlich widerspricht
Die ukrainische Literatur sieht sich der Anforderung ausgesetzt, sich aus dem Schatten der russischen Sprache und Kultur zu befreien. Diese über Jahrhunderte aufgebauten Strukturen aufzubrechen, das ist das seit dem russischen Überfall alles beherrschende Thema, und jedes Gespräch in Czernowitz berührte zwangsläufig diesen Punkt. Das Ukrainische als Sprache der „Tölpel“ und „Bauern“, die Ukrainer als „Kleinrussen“ – auch bei den großen russischen Schriftstellern wie Tolstoi und Puschkin wird dieser imperialistische Anspruch Russlands ganz selbstverständlich mit transportiert. Die Auseinandersetzung mit der russischen Kultur zu vermitteln, ist für die Ukrainer momentan im Gespräch mit westlichen Autoren das sensibelste Thema: Ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass die Ukraine politisch und kulturell nicht als eine Art russischer Filiale wahrgenommen werden darf. Die ukrainische Sprache hat beispielsweise mehr Berührungspunkte mit dem Slowakischen und Polnischen als mit dem Russischen.
Man konnte also, und das ist die wichtigste Erkenntnis, auf dem „Meridian“-Treffen den Eindruck haben, dass Putin mit seinem Krieg in erster Linie etwas ausgelöst hat, das seinen Intentionen gänzlich widerspricht. Die Ukrainer, obwohl auch sie unverkennbar noch in einer postsowjetischen Gesellschaft leben und sich von westlichen Ländern stark unterscheiden, schärfen mit großem Selbstbewusstsein ihre eigene Identität. Das ist kaum mehr rückgängig zu machen.
Von der Website der Süddeutschen Zeitung.